Finger zeigt auf die Abweiseinrichtung einer industriellen Nähmaschine
Die Abweiseinrichtung am Messer der Nähmaschine soll Unfälle verhindern und stammt aus einem 3D-Drucker.

Speziell wenn die Stückzahlen gering sind, können Additive Fertigungsverfahren wie 3D-Druck ihre Stärken gegenüber klassischen Herstellungsverfahren ausspielen. Bei der Auslegung  von sicherheitsrelevanten Bauteilen müssen jedoch die spezifischen Eigenschaften des 3D-gedruckten Materials berücksichtigt werden. Sonst kann es zu Unfällen wie diesem kommen: Beim Nähen an einer industriellen Nähmaschine hatte sich an der Abweiseinrichtung vor der automatischen Abschneidevorrichtung Stoff angestaut. Die Bedienperson versuchte, diesen Stau zu beheben, indem sie den Stoff mit dem Finger weiterschob. Hierbei geriet sie mit der Hand unter die Abweiseinrichtung, die sich etwas zur Seite drücken ließ. Das automatische Messer löste genau in diesem Moment aus und schnitt durch den Nagel in den Zeigefinger.

Problem und Lösung

Das Messer der Nähmaschine war mit einer Abweiseinrichtung versehen, damit genau solche Unfälle nicht geschehen können. Bei der Abschneidevorrichtung handelte es sich um ein Zubehörteil, das der Nähmaschinenhändler mit dem Rest der Maschine gekoppelt hatte. An älteren Modellen desselben Typs war die Abweiseinrichtung aus einem Blech gefertigt, an der Unfallmaschine bestand dieses Teil aus Kunststoff. Recherchen beim Hersteller der Abschneidevorrichtung ergaben, dass dieser den Herstellungsprozess für die Abweiseinrichtung von Blechverarbeitung auf 3D-Kunststoff-Druck umgestellt hatte. Die Grundkonstruktion der Abweiseinrichtung wurde beibehalten, nur die Dicke des Materials erhöht.

Die Nähmaschine, die zum Zeitpunkt des Unfalls etwa ein Jahr alt war, ist zudem ein japanisches Modell, das von einem Lieferanten in Deutschland importiert und CE-zertifiziert wird. Diese Firma baut auch die Abschneidevorrichtung, eine unvollständige Maschine, ein und liefert die Gesamtmaschine aus. Beim Zertifizierungsprozess wurde nicht berücksichtigt, dass der Zusammensteller auch die Zertifizierung dieser Gesamtmaschine durchführen muss. In diesem Schritt ist die Sicherheit der Gesamtmaschine zu bewerten und eine veränderte Sicherheitseinrichtung wäre in diesem Schritt gegebenenfalls aufgefallen.
 
Weiterhin wurde im Betrieb keine Abnahme der Maschine durchgeführt. Eine Überprüfung der existierenden Gefährdungsbeurteilung mit der neuen Maschine hätte zum Hinterfragen der Änderung führen sollen.
 
Der Hersteller der Abschneidevorrichtung hat schnell auf diesen Unfall reagiert, die Abweisvorrichtung mit verstärkenden Strukturen neu konstruiert und gedruckt und die Teile sofort an alle Kundinnen und Kunden versendet, die die Maschine nutzen.

Klar definierte Eigenschaften

Die sicherheitstechnischen Anforderungen für industrielle Nähmaschinen sind in DIN EN ISO 10821 geregelt, feststehende trennende Schutzeinrichtungen in der harmonisierten Sicherheitsfachgrundnorm DIN EN ISO 14120 behandelt. Letztere definiert die Eigenschaften von feststehenden trennenden Schutzeinrichtungen (Auszug):

  • Ausreichende Festigkeit des Werkstoffs in Steifigkeit und Stoß
  • Haltbarkeit während der gesamten Maschinenlebensdauer oder austauschbar
  • Kein zusätzliches Verletzungsrisiko
  • Ausreichende Festigkeit der Verbindungsstellen
  • Nur mithilfe von Werkzeugen entfernbar

Generell gilt: Um Unfälle dieser Art zu vermeiden ist es wichtig, auch bei Standardmaschinen eine sicherheitstechnische Abnahme auf Basis einer Gefährdungsbeurteilung durchzuführen.

Dr. Sebastian Jäger