Stolperfalle identifiziert: Der Auszubildende Nicolas Stoppel sichert ein Kabel auf dem Boden eines Büroraumes mit einem Klebeband.
Sicherheit mitdenken: Der Auszubildende Nicolas Stoppel macht es vor und klebt fachgerecht ein Kabel am Boden ab, damit im Nudging-Workshop niemand darüber stolpert.

Berlin-Lichtenberg, wenige hundert Meter von der Spree und dem wuseligen Bahnhof Ostkreuz entfernt. In einer Seitenstraße liegt das Aus- und Weiterbildungszentrum der Berliner Wasserbetriebe (BWB). Das kommunale Unternehmen mit mehr als 4.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist für die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung in Berlin und Teilen Brandenburgs zuständig. In einem Zweckbau gegenüber der Sportanlage des Fußballclubs SV Sparta 1911 erlernen neue BWB-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Grundlagen für ihre künftige Arbeit.

Im dritten Stock des Ausbildungszentrums sitzt Dr. Christine Gericke, Arbeitspsychologin der BG ETEM, mit fünf Auszubildenden der BWB an einem Tisch. Das Thema, mit dem sich Tuana Ahmet, Melanie Baran, Nicolas Stoppel, Kim Sowade und Fikret Gökceoglu an diesem Vormittag unter der Anleitung Gerickes beschäftigen, steht normalerweise nicht auf dem Arbeitsplan der jungen BWB-Angestellten: Um „Nudging“ – deutsch: Anstupsen – soll es in den kommenden Stunden gehen. Genauer: um das Anstupsen zu mehr Sicherheit bei der Arbeit.

Arbeitspsychologin Gericke zeigt zunächst einen kurzen Zeichentrickfilm. Am Beispiel zweier fiktiver Monteure zeigt der Film die Gefahren, denen sich junge Beschäftigte oft unbewusst aussetzen, wenn sie zum Beispiel ohne Persönliche Schutzausrüstung gegen Absturz auf einem Hausdach arbeiten.

Eine Situation, die BWB-Azubi Melanie Baran aufgrund der leicht überzeichneten Gefährdung für wenig realistisch hält. Workshopleiterin Gericke klärt deshalb über die bedenklichen Hintergründe auf: Es gebe „zu viele Unfälle bei der Installation von Photovoltaikanlagen“, sagt die BG-Expertin – und sieht bei diesem Hinweis fünf nickende Köpfe.

Workshop Nudging: Gruppe schaut sich einen Zeichentrickfilm zum Thema Arbeitssicherheit an.
Zu Beginn des Workshops sehen die fünf jungen Frauen und Männer gemeinsam ein Video, welche Gefahren Auszubildenden bei ungesicherter Arbeit auf einem Hausdach drohen.

Anstöße zur Verhaltensänderung

Beispiele wie die der beiden Figuren aus dem Trickfilm zeigen: Menschen treffen im Arbeitsalltag oft ungewollt schlechte Entscheidungen – die sie vermutlich nicht treffen würden, wenn sie alle denkbaren Risiken ihres Berufs immer im Kopf hätten. Doch Unkenntnis, Bequemlichkeit oder Desinteresse führen häufig zu vermeidbaren Fehlern.

Fehler, denen die Nudging-Methode entgegentreten will. Sie hilft Unternehmerinnen und Unternehmern bei der Entwicklung von Maßnahmen, die das Verhalten von Menschen in vorhersehbarer Weise verändern können, ohne irgendwelche Optionen auszuschließen. Im Klartext: Nudges wollen niemanden zu einem bestimmten Verhalten drängen, sondern nur zu einem sinnvollen Handeln ermuntern. Das kann im Arbeitsalltag ebenso funktionieren wie im Privaten – etwa durch einen grünen Smiley in der Tempo-30-Zone, der zum richtigen Fahrverhalten animiert. „Auf diese Weise ließen sich einige verhaltensbedingte Unfälle vermeiden, die den größten Teil aller Unfälle ausmachen“, erklärt Gericke.

Workshop Nudging: Dr. Christine Gericke, Arbeitspsychologin der BG ETEM in hellem Blazer und T-Shirt.
Dr. Christine Gericke, Arbeitspsychologin der BG ETEM

Im BWB-Ausbildungszentrum stehen jetzt zehn heiter-ironische Illustrationen aus der Broschüre im Mittelpunkt des Workshops. Die Zeichnungen sollen den jungen Beschäftigten verdeutlichen, welche oft einfachen Möglichkeiten es gibt, die tägliche Arbeit sicherer zu gestalten: ein Helm, der immer am vorgesehenen Platz liegt und stets griffbereit ist; gesunde und durstlöschende Getränke statt stark zuckerhaltiger Limonaden; Abfalleimer, die durch witzige Sprüche dazu animieren, den Müll an der richtigen Stelle zu entsorgen.

Fünf für Sicherheit – angestupst von der BG ETEM

Schockplakate sollen spezielle Zielgruppen ansprechen

Arbeitspsychologin Gericke ergänzt diese Liste durch weitere Beispiele – etwa Schatten an der Wand, die zum Ablegen von Werkzeug am richtigen Platz animieren, oder Schockplakate neben den Autobahnen. Dazu bittet sie die Auszubildenden um ihre Einschätzungen: „Wie wirken diese Plakate auf euch?“ Bei ihren Antworten sind sich die jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einig: Die plakativen Hingucker sollen vor allem spezielle Zielgruppen zu einem sichereren Verhalten animieren.

Auch für ein selbst ausgewähltes Risiko haben sie Nudge-Ideen parat: Im Raum liegen Kabel herum, die eine Stolperfalle darstellen. Die Workshop-Teilnehmerinnen und -teilnehmer schlagen vor, die Kabel auf- oder ganz wegzuräumen oder abzukleben. Sinnvoll wäre auch eine richtige Kabelführung oder eine Kabeltrommel, in der sich das Kabel von allein wieder aufrollt.

Workshop Nudging: Materialien in Papierform liegen auf einem Tisch verstreut.
Cartoons aus einer Broschüre der BG ETEM bilden die Gesprächsgrundlage für eine Arbeitseinheit, wie Ansätze zur Verhaltensänderung aussehen können.

Am Ende des etwa zweistündigen Workshops fasst die Arbeitspsychologin die von den Gruppen erarbeiteten Ergebnisse zusammen. Zudem verteilt sie Klebepunkte, mit denen die BWB-Auszubildenden die aus ihrer Sicht wichtigsten Faktoren für mehr Sicherheit bei der Arbeit gewichten sollen. Das Resultat: Vor allem der „Bequemlichkeit“ sollten Anstupser von Arbeitgebern für sicheres Arbeiten entgegenkommen, sind sich die jungen Beschäftigten einig. Beispielsweise die bereits genannte Kabeltrommel mit sich selbst aufrollendem Kabel.

Aber auch „Spaß“, „Timing“ und „Eindeutigkeit“ könnten aus Sicht der Azubis hilfreiche Signale sein, damit die Arbeit künftig sicherer und gesünder wird. So bietet sich ihrer Ansicht nach für das „Timing“ zum Beispiel eine App an, die fünf Minuten vor Arbeitsende ans gemeinsame Aufräumen erinnert.

 

Stefan Thissen