Kontrollverlust und Hilflosigkeit: Diese Gefühle empfinden viele Menschen, die einen Unfall bei der Arbeit miterlebt haben.

Es sind Ereignisse, mit denen niemand rechnet und die von einem Moment auf den anderen das Leben verändern können: schwere Arbeits- oder Wegeunfälle, bei denen zum Beispiel der Arm des Kollegen in einer Maschine eingeklemmt wird, die Kollegin auf dem Betriebsausflug tödlich verunglückt oder sich ein tragischer Autounfall auf dem Weg zur Arbeit ereignet. Solche Notfallsituationen hinterlassen Spuren und sind oft schwer zu verarbeiten. Und nicht nur die direkt Betroffenen leiden nach Unfällen. Auch die Seele eines Augenzeugen oder einer Augenzeugin kann Schaden nehmen. „Wer einen schweren Unfall beobachtet oder versucht zu helfen, steht in der Regel erst mal unter Schock“, erklärt Jella Heptner, Arbeitspsychologin bei der BG ETEM. „Das ist eine kurzfristige und ganz normale Reaktion des Körpers. Er reagiert meist sehr stark, zum Beispiel mit erhöhtem Puls, Schwindel, Schweißausbrüchen oder Muskelzittern. Aber auch eine emotionale Taubheit oder ein völliges Erstarren können Symptome eines Schocks sein.“ Diese Reaktionen können ein bis zwei Tage andauern. Wenn Augenzeuginnen oder Augenzeugen längerfristig psychische Probleme haben, kann das zum Beispiel auf eine posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen oder eine Angststörung in Verbindung mit dem Unfall hindeuten. Mögliche Anzeichen können Gereiztheit, mangelnde Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit, Schlafstörungen und Albträume sein.


„Unterstützung innerhalb und auch außerhalb des Betriebs ist ein wichtiger Schutzfaktor nach einer Notfallsituation.“

Jella Heptner, Arbeitspsychologin bei der BG ETEM


„Eine Therapie im Rahmen des Psychotherapeutenverfahrens der gUV beginnt im Regelfall innerhalb einer Woche ab Auftrag.“

Hannah Schnitzler, Sachbearbeiterin Entschädigungs- und Leistungsrecht bei der BG ETEM

So können Unternehmen unterstützen
Personen, die Zeuge oder Zeugin eines schweren Wege- oder Arbeitsunfalls waren, können berichten, wie verstörend solch ein Ereignis sein kann. Auch alle Formen von Gewalt sind potenziell traumatisierend. Körperliche Gewalt, Bedrohungen und sexuelle Übergriffe führen häufig nicht nur bei den Opfern zu einer Traumatisierung, sondern auch bei Menschen, die die Situation „nur“ beobachtet haben. Verantwortliche in Unternehmen sollten also nicht nur für die Betroffenen eines Unfalls da sein, sondern auch Beschäftigte im Blick behalten, die Augenzeugin oder Augenzeuge waren. „Unterstützung durch die Führungskraft, Kolleginnen und Kollegen sowie durch den Betrieb ist ein wichtiger Schutzfaktor nach einer Notfallsituation“, weiß Arbeitspsychologin Jella Heptner. Darüber hinaus sollten Beobachterinnen und Beobachter direkt namentlich in der Unfallanzeige mit aufgenommen werden. Idealerweise erfolgt auch noch ein Eintrag ins Verbandbuch. „Je früher Unternehmen psychische Probleme bei Augenzeugen melden, desto besser“, sagt Hannah Schnitzler, Sachbearbeiterin Entschädigungs- und Leistungsrecht bei der BG ETEM. „Je länger das Ereignis zurückliegt, desto schwieriger wird es, einen Zusammenhang zwischen dem Beobachten des Unfalls und den psychischen Problemen nachzuweisen.“

Bei schweren Unfällen ist schnelles Handeln durch Kolleginnen und Kollegen notwendig. Diese stehen danach meistens unter Schock.

Gespräche und erste Diagnosen
Wenn eine Augenzeugin oder ein Augenzeuge in Folge eines Arbeitsunfalls psychisch beeinträchtigt ist und dies der BG gemeldet wird, haben Betroffene Anspruch auf fünf sogenannte probatorische Sitzungen in einer psychotherapeutischen Praxis. Nach den fünf Sitzungen wird in der Regel eine Diagnose gestellt. Ist es medizinisch notwenig, können weitere Sitzungen in Anspruch genommen werden. Die behandelnden Psychotherapeutinnen oder Psychotherapeuten müssen von der DGUV zugelassen sein. Dafür müssen sie beispielsweise Weiterbildungen nachweisen, und ihre Praxen müssen eine bestimmte Ausstattung haben. Das Gute: Innerhalb von einer Woche ab Auftrag kommen die ersten Gespräche zustande. Eine sehr schnelle Hilfe, die zur Stabilisierung und Gesundung der Betroffenen beiträgt.

Clarissa Lorz