Hände eines mit Gummihandschuhen geschützten Labormitarbeiters bei der Arbeit an einem Versuchsaufbau
Die Medizinische Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg untersucht in einem Projekt die herkömmlichen Strategien nach Kontamination mit Flusssäure.

Ausgangslage bei der Anwendung von Flusssäure

In verschiedenen Industriezweigen wird Flusssäure als Ausgangsmaterial für eine Vielzahl von Produkten oder Arbeitsprozessen benötigt und ist dort nicht zu ersetzen. Zu den wichtigen Einsatzbereichen gehören Kältetechnik, Elektronikindustrie (unter anderem Halbleitertechnik), Aluminium-herstellende Betriebe (zum Beispiel für Flugzeug- und KFZ-Bau) und Textilveredelung. Trotz sorgfältigen Arbeitens und geeigneter Schutzmaßnahmen kommt es immer wieder zu Unfällen mit Flusssäure, besonders im Kontakt mit der Haut oder an den Augen.

Eine Flusssäurekontamination führt wie bei anderen Säuren auch zu einer lokalen Verätzung der Haut. Dies ist die sogenannte Säurewirkung. Das besonders Gefährliche am Kontakt mit Flusssäure ist aber ihre toxische Wirkung, selbst bei geringen Konzentrationen und nur kleiner Kontaktfläche: Dabei durchdringen Fluoridionen die Haut und verbinden sich im Körper mit Magnesium- und Calcium-Ionen. Dies führt zu gefährlichen Veränderungen im Milieu der lebenswichtigen Ionen im Körper. Diese werden ihrer Funktion für Nerven- und Muskeltätigkeit beraubt, was schlimmstenfalls zum Tod zum Beispiel durch Herzstillstand führen kann. Wegen dieser ausgeprägten toxischen Wirkung des Fluorids ist es extrem wichtig, dessen Übertritt durch die Haut möglichst zu vermeiden bzw. zu minimieren.

Bisherige Empfehlungen zur Ersten Hilfe

Kommt es zu einer Kontamination, wird als Erste-Hilfe-Maßnahme empfohlen, exponierte Areale zuerst gründlich mit Wasser abzuspülen und anschließend Calciumgluconat-Zubereitungen (Lösung, Gel 2,5 Prozent) einzumassieren. Ein Präparat, das Polyethylenglykol 400 enthielt, ist mittlerweile nicht mehr erhältlich, daneben gibt es ein weiteres Präparat, das der Hersteller selbst für die alleinige Spülung empfiehlt. Beschäftigte in Flusssäure-produzierenden Betrieben in Deutschland und in weiteren europäischen Ländern verwenden alternativ Verfahren zur Hautreinigung, bei denen nach Flusssäure-Unfällen die oberen Hautschichten unter fließendem Wasser abgebürstet werden.

Forschungsprojekt 2010 ins Leben gerufen

Diese bisherigen Empfehlungen zur Ersten Hilfe basieren jedoch fast ausschließlich auf empirischem Wissen. Es fehlen wissenschaftliche Studien, die die Effektivität der empfohlenen Reinigungsmaßnahmen untersuchen und belegen. Eine Zulassung nach dem Arzneimittelrecht existiert für keinen dieser Stoffe.

Deshalb läuft seit dem Jahr 2010 ein Studienprojekt, das die Effektivität von Hautreinigungsprozeduren und die Wirkung von Antidoten bei Flusssäurekontamination untersucht, und zwar an menschlichen Operationspräparaten aus der Uniklinik Erlangen (Humanhaut-ex-vivo-Modell). Federführend ist die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), beziehungsweise das dort ansässige Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin (IPASUM). Als das Projekt startete, stand es unter der Leitung von Prof. Dr. Hans Drexler, seit Ende 2023 hat die Leitung Frau Prof. Andrea Kaifie-Pechmann inne. Die BG ETEM beteiligt sich unter anderem als finanzielle Zuwendungsgeberin. Das Forschungsprojekt ist mittlerweile in der Phase V und soll mit der Phase VI abgeschlossen werden.

Ziele und Durchführung des Forschungsprojekts

Die Hauptziele sind:

  • Entwicklung eines Modells an lebensfähiger Humanhaut ex-vivo, um die Hautschädigung und Penetration durch Flusssäure zu untersuchen.
  • Entwicklung einer Strategie beziehungsweise eines Modells zur Dekontamination von mit Flusssäure belasteter Haut unter Anwendung verschiedener Antidote
  • Überprüfung der Effektivität verschiedener bisher angewendeter Hautreinigungsstrategien zur Dekontamination nach Flusssäurebelastung.
  • Erstellung einer wissenschaftlich fundierten Empfehlung zur Ersten Hilfe bei Flusssäurebelastung, welche die die Berufsgenossenschaften und Anwender in der Industrie nutzen können.

Schematische Darstellung des Versuchsaufbaus
Grundsätzliche Versuchsanordnung zur Beobachtung und Messung von Säurewirkung und Durchtritt.

Die obige Abbildung zeigt die grundsätzliche Versuchsanordnung: Flusssäure wird auf ein Stück menschlicher Haut gegeben, dass in die Apparatur eingespannt ist. Anschließend wird die oberflächliche Säurewirkung und auch der Durchtritt von Fluoridionen in die darunter liegende Lösung beobachtet und gemessen. Zu der Flusssäure können nun verschiedene Mittel zur Dekontamination hinzugegeben und die Wechselwirkung beobachtet und gemessen werden.

Kurzfassung der wichtigsten Ergebnisse

  • Ein früher Beginn der Hautreinigung ist wichtiger als die Wahl des Mittels: Die Reduktion der Kontaminationsdauer (von drei Minuten auf eine Minute) reduziert die Fluoridaufnahme exponentiell.
  • Die Reinigung mit PEG 400 zeigte sich hinsichtlich der penetrierten Fluoridmenge als am wenigsten wirksam.
  • Die anderen Standardmaßnahmen zur Dekontamination der Haut nach Flusssäure zeigen nur marginale Unterschiede bezüglich ihrer Effektivität.
  • Die Formulierung als Gel erhöht die Effektivität von Calcium.
  • Calcium reduziert die Fluoridaufnahme etwas stärker als Magnesium.
  • Im höheren Konzentrationsbereich verlieren sich die marginalen Unterschiede zwischen Calcium und Aluminium; beide reduzieren die Fluoridaufnahme vergleichbar.
  • Eine Senkung des intradermalen pH-Werts kann zur Fluoridaufnahme und zur Verstärkung der systemisch-toxischen Flusssäurewirkung beitragen (Senkung des intradermalen pH-Werts zum Beispiel direkt durch Flusssäure oder entzündlich, zum Beispiel bei Sonnenbrand).
  • Ein Zusatz von säurepuffernden Substanzen zu Dekontaminationsmitteln verbessert deren Wirksamkeit.
  • Ein Absenken der Hauttemperatur von 32 Grad Celsius auf 24 Grad Celsius kann die Fluoridaufnahme signifikant reduzieren.
  • Das Abbürsten der obersten Hautschichten scheint im Vergleich zum reinen Abspülen der Haut die initiale Fluoridaufnahme leicht zu erhöhen und im späteren Verlauf minimal zu reduzieren.

Schlussfolgerungen und offene Fragen

Durch die Untersuchungen zur Wirksamkeit gängiger und die Prüfung alternativer Dekontaminationsstrategien wurden verschiedene Bausteine geprüft beziehungsweise identifiziert und charakterisiert, die einen Einfluss auf die Effektivität der Hautreinigung nach Flusssäurekontamination haben. Unklar ist bisher, wie diese verschiedenen Bausteine bei der Dekontamination gegenüber Flusssäure exakt zusammenspielen. Die Beurteilung dieser Interaktion ist ein entscheidender Schritt bei der Identifizierung einer oder mehrerer möglichst effektiver Dekontaminationsstrategien.

Weiterführende Untersuchungen in der abschließenden sechsten Phase 

Es bleibt die Frage: Wie lässt sich die Effektivität der Hautreinigung nach Kontamination mit Flusssäure (das heißt eine Reduktion der transdermalen Fluoridabsorption) durch die Kombination der verschiedenen „Bausteine“ verbessern?

Prüfgruppe (24 Grad Celsius)
  • Reinigen der Haut mit Wasser und anschließend weitere Dekontamination der Haut mit Calciumgluconat, versetzt mit (HEPES-) Puffer (2-(4-(2-Hydroxyethyl)-1-piperazinyl)-ethansulfonsäure-Puffer)
  • Reinigen der Haut durch Abbürsten der oberen Hautschichten unter einem Wasserstrahl und anschließend weitere Dekontamination der Haut mit Calciumgluconat, versetzt mit (HEPES-) Puffer.

Es muss dabei ein Verfahren entwickelt werden, wie handelsübliches Calciumgluconat-Gel mit einem Puffer versetzt werden kann.

Gegebenenfalls in einem weiteren Forschungsprojekt soll ein handelsfähiges Produkt mit der besten Rezeptur zur effektiven Dekontamination bei Kontakt mit Flusssäure entwickelt werden.

Basierend auf den gefundenen Ergebnissen zu den verschiedenen Dekontaminationsstrategien ist es ein weiteres Ziel, die DGUV-Empfehlungen zur Hautreinigung nach Flusssäureexposition (s. u. Literatur) zu überarbeiten und zu aktualisieren.

Arno Siepe