Porträtfoto von Martina Schmeink. Sie hat kürzere braune Haare und trägt ein dunkles Jackett.

Martina Schmeink ist geschäftsführende Vorständin des Demographie Netzwerk e.V. (ddn).

Frau Schmeink, Warnungen gab es schon lange, inzwischen ist der Fachkräftemangel in Deutschland richtig akut. Hat die Wirtschaft zu spät reagiert?

Sicherlich kommt das nicht ganz überraschend, sodass Betriebe mit einem vorausschauenden Demografie-Management und der Entwicklung individueller Maßnahmen vorbereitet sein könnten. Aber es ist ja häufig so, dass erst nach Lösungen für Probleme gesucht wird, wenn sie bereits virulent sind. Viele Faktoren, die den Fachkräftemangel beeinflussen, waren tatsächlich schon seit Jahren bekannt – allerdings hatten Unternehmen darauf wenig Einfluss. Ich meine insbesondere die demografische Entwicklung: Die sogenannten Babyboomer wechseln bald in den Ruhestand. Weil gleichzeitig die Bevölkerungszahl abnimmt, kommen aber nicht genug junge Menschen nach, um die so entstehenden Lücken zu füllen. Das wiederum sorgt für die nun oft berichteten Lücken in der Belegschaft.

Welche Auswirkungen bringt das für Betriebe mit sich?

Der Fachkräftemangel wird das künftige Wirtschaftswachstum erheblich bremsen. Im jüngsten Fachkräftereport der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) gaben mehr als die Hälfte der fast 22.000 befragten Unternehmen an, nicht alle offenen Stellen besetzen zu können. Das ist ein Rekordwert. Diese Zahlen werden sehr konkrete Auswirkungen für die betroffenen Betriebe haben: Wenn wegen Personalmangels Aufträge verlorengehen oder gar nicht erst angenommen werden können, ist das langfristig existenzbedrohend. Zumal Unternehmen jetzt und auch in Zukunft um die qualifizierten Bewerberinnen und Bewerber immer mehr konkurrieren. Deshalb gilt es nun, schnell möglichst viele Stellschrauben zu prüfen und eine gute Strategie zu entwickeln.

Was also können Unternehmen tun, um auf den Fachkräftemangel zu reagieren?

Sie können sich zuallererst darum bemühen, die Fachkräfte zu halten, die sie aktuell haben. Eine Empfehlung wäre, gute und individuell abgestimmte Arbeitsbedingungen zu schaffen, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu halten.  Die meisten Menschen wollen arbeiten, sie ziehen daraus Selbstvertrauen und Zufriedenheit. Aber die Bedingungen müssen stimmen. Sie sind entscheidend für die Motivation von Beschäftigten und die langfristige Bindung ans Unternehmen. Gute Arbeitsbedingungen und eine gewisse Flexibilität, was Arbeitszeit und Arbeitsformen angeht, sind außerdem auch gute Argumente, um gute Bewerberinnen und Bewerber für sich zu gewinnen.

Können Sie das etwas konkretisieren?

In vielen Unternehmen wird es künftig mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geben, die 50 Jahre oder älter sind. Und das ist ein riesiges Potenzial: Betriebe sollten davon wegkommen, Alter als Defizit anzusehen. Menschen in der zweiten Lebenshälfte haben sehr viel Erfahrung, die sie auch gerne teilen. Kontinuierliche Weiterbildung für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lohnt sich, unabhängig vom Lebensalter.

Jeder kennt das Beispiel vom Dachdecker, der mit 60 Jahren aufhören muss, weil er seine Arbeit körperlich nicht mehr schafft. Trotzdem verfügen gerade die Älteren über wertvolles Erfahrungswissen, das sicherlich an anderer Stelle im Unternehmen wertvoll sein kann. Ebenso wichtig wie Qualifizierung sind präventive Gesundheitsangebote. Wenn Beschäftigte gesund sind, bleiben sie auch lange einsatzfähig. Präventionsmöglichkeiten gibt es viele: Das fängt bei der ergonomischen Gestaltung von Arbeitsplätzen an und hört bei flexiblen Arbeitszeiten noch lange nicht auf. Es lohnt sich, eine Präventionskultur im Unternehmen zu etablieren und zu vermitteln: „Wir wollen, dass du gesund in Rente gehen kannst, damit du von deinem Ruhestand noch etwas hast.“

Lässt sich damit auch die sogenannte Generation Z locken?

Durchaus. Natürlich sind nicht alle gleich, die zwischen 1997 und 2012 zur Welt gekommen sind. Jungen Menschen sind Flexibilität und Sinnhaftigkeit im Job heute besonders wichtig, und Homeoffice-Möglichkeiten oder flexible Arbeitszeiten sind für die Generation Z quasi selbstverständlich. Auch in Gehaltsverhandlungen treten sie selbstbewusst auf. Trotzdem ist eine gelebte Präventionskultur im Betrieb auch ein Argument für junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sich für eine Arbeitgeberin oder einen Arbeitgeber zu entscheiden. Denn letztlich zeigt das immer, dass die Bedürfnisse der Angestellten wichtig sind, dass ihre Gesundheit und Sicherheit im Fokus stehen. 

Wir halten fest: Gutes Generationenmanagement lohnt sich. Wo schlummert aus Ihrer Sicht weiteres Fachkräfte-Potenzial, das Betriebe heben können?

Mit Blick auf den angespannten Arbeitsmarkt und fehlende Fach- und Arbeitskräfte in fast allen Bereichen lohnt es sich, vermeintlich neue Erwerbspersonenpotenziale zu erschließen. Inklusion und Diversität sind hierbei zwei wichtige Stichworte. Viele Unternehmen haben bereits gute Erfahrungen gemacht und das Potenzial von Menschen mit Beeinträchtigungen erkannt. Je nach Grad der Behinderung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit können sich etwa die Hälfte oder rund ein Viertel der nicht erwerbstätigen Menschen mit Beeinträchtigungen vorstellen, in Zukunft eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Diese Fachkräftepotenziale gilt es zu erschließen.

Diversität wiederum hat wortwörtlich viele Gesichter – und pauschal lässt sich sagen: Gemischte Teams bringen Unternehmen voran. Unternehmen sollten deshalb Vielfalt fördern und leben, sei es durch verstärkte Frauenförderung, indem sie Geflüchtete einstellen und, und, und ... Der Fachkräftemangel wird dadurch nicht verschwinden, seine Folgen für Betriebe lassen sich aber zumindest abmildern.

 

Die Fragen stellte Annika Pabst