Bedingt durch die Energiewende haben sich die Übertragungsleistungen in elektrischen Hochspannungstransportnetzen deutlich erhöht. Dies kann sich auch auf die Arbeiten an Gasleitungen in der Nähe solcher Anlagen auswirken. Durch die Hochspannungsbeeinflussung kann in eine benachbarte Rohrleitung (z.B. mit Kunststoffumhüllung) eine elektrische Spannung eingekoppelt werden. Bei Arbeiten an beeinflussten Rohrleitungen kann es so zu einer elektrischen Gefährdung kommen.
Diese Gefährdung des Montagepersonals auf der Rohrleitungsbaustelle wird bislang weder im staatlichen Regelwerk zum Arbeitsschutz noch im Regelwerk der gesetzlichen Unfallversicherungsträger berücksichtigt. Dennoch muss bei Arbeiten an Gas- und Wasserleitungen die Hochspannungsbeeinflussung bei der Gefährdungsbeurteilung für eine Baumaßnahme berücksichtigt werden. Bisher fehlen jedoch Handlungshilfen, um diese komplexen Sachverhalte in ein praxistaugliches Schutzkonzept zu überführen.
Grundlagen zum Arbeitsschutz bei Arbeiten an Gasleitungen
Für Arbeiten an Gasleitungen muss der Unternehmer oder die Unternehmerin im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung gemäß §5 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) und der DGUV Vorschrift 1 die Gefährdungen bei den geplanten Tätigkeiten analysieren und notwendige Schutzmaßnahmen zur Risikominimierung festlegen. Bei der Auswahl dieser Maßnahmen ist die Rangfolge nach dem STOPP-Prinzip (vgl. § 4 ArbSchG) zu beachten:
Substitution
Technik
Organisation
Persönliche Schutzausrüstung
Persönliche Schutzmaßnahmen
Beispiele für Gefährdungen auf einer Gasrohrnetzbaustelle sind:
- mangelnde Organisation
- Brand und Explosion
- Überdruck in der Leitung
- elektrische Körperdurchströmung
- Gefahrstoffe
- Arbeiten in oder an Baugruben und Gräben.
Unter die elektrischen Gefährdungen ist neben den besonderen Aspekten der Benutzung von elektrischen Betriebsmitteln auf Baustellen auch die Hochspannungsbeeinflussung einzuordnen. Ergibt sich aus der Gefährdungsbeurteilung deshalb ein Handlungsbedarf, so sind die notwendigen Maßnahmen abzuleiten und umzusetzen. Für die Auswahl geeigneter Schutzmaßnahmen sind verschiedene Regelwerke zu berücksichtigen – z. B. Technische Regeln für Betriebssicherheit (TRBS), Technische Regeln für Gefahrstoffe (TRGS), Regelwerke der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) und des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches (DVGW) sowie DIN VDE Normen.
Spezielle Gefährdung
Eine Gasleitung aus Stahl ist ein elektrisch leitfähiger Körper, der isoliert in einer leitfähigen Umgebung, der Erde, eingebettet ist. Für den passiven Korrosionsschutz sind diese Leitungen in der Regel mit einer Rohrumhüllung aus Kunststoff versehen.
Durch Hochspannungsleitungen oder mit Wechselstrom betriebene Oberleitungen von Bahnstrecken, die in der Nähe zur Gasleitung verlaufen, kann es zur Einkopplung einer elektrischen Spannung in die Gasleitung selbst oder in mit ihr verbundene Anlagenteile kommen. Dieser Effekt wird als Hochspannungsbeeinflussung bezeichnet und beschreibt die Einwirkung einer Hochspannungsanlage auf eine benachbarte Rohrleitung durch induktive, kapazitive oder ohmsche Kopplung.
Diese drei Koppelmechanismen führen letztlich zum gleichen Ergebnis: Die Rohrleitung steht gegenüber der Umgebung unter Spannung. Die eingekoppelte elektrische Spannung ist in der Regel deutlich kleiner als die Nennspannung der Hochspannungsleitung, sie kann aber dennoch für Personen, die an einer Gasleitung tätig sind, eine Gefährdung darstellen. Deshalb darf für einen wirksamen Personenschutz die eingekoppelte elektrische Spannung auf der Rohrleitung bestimmte Grenzwerte nicht überschreiten. Diese Grenzwerte orientieren sich an den Wirkungen des elektrischen Stroms auf den Menschen und sollen sowohl das an der Rohrleitung arbeitende Personal als auch unbeteiligte Dritte schützen.
Wann sind Maßnahmen notwendig?
Im DVGW Regelwerk wird das Thema Hochspannungsbeeinflussung im Arbeitsblatt GW 22 „Maßnahmen beim Bau und Betrieb von Rohrleitungen im Einflussbereich von Hochspannungs-Drehstromanlagen und Wechselstrom-Bahnanlagen“ behandelt. Demnach müssen bei einer dauerhaften Hochspannungsbeeinflussung Maßnahmen ergriffen werden, wenn die Beeinflussungsspannung über 60 V liegt. Bei einer Spannung in dieser Größenordnung kann es jedoch durchaus zu einer deutlichen Wahrnehmung (Kribbeln) und einer Schreckreaktion kommen.
Wesentlich höhere Beeinflussungsspannungen werden eingekoppelt, wenn es im Hochspannungssystem zu einem Fehler kommt, beispielsweise zu einem Erdschluss. Die dann auftretenden Beeinflussungsspannungen können für die Fehlerdauer Werte von über 1.000 V annehmen. Auch in diesem Fall muss die Beeinflussung der Herztätigkeit oder sogar das potenziell tödliche Herzkammerflimmern durch geeignete Maßnahmen verhindert werden.
Darüber hinaus muss bei Arbeiten an in Betrieb befindlichen Gasleitungen auch die Gefährdung durch das Auftreten von gefährlicher explosionsfähiger Atmosphäre im Arbeitsbereich berücksichtigt werden. Die abgeleiteten Schutzmaßnahmen zu den beiden genannten Gefährdungen müssen aufeinander abgestimmt werden. Beispielsweise darf ein isolierender Standort nicht dazu führen, dass der Schutz gegen eine gefährliche elektrostatische Aufladung von Personen nicht mehr wirksam ist, sofern dieser zur Vermeidung von Zündquellen erforderlich ist.
Bewertung der Gefährdung und Schutzkonzept zur Hochspannungsbeeinflussung
Eine qualifizierte Bewertung der Beeinflussung kann nur eine fachkundige Person vornehmen, die beispielsweise eine elektrotechnische Ausbildung und spezielle Kenntnisse auf dem Gebiet der Hochspannungsbeeinflussung besitzt (z. B. KKS-Sachkundiger mit den entsprechenden Kenntnissen und Erfahrungen). Die Grundlagen für diese Bewertung werden im Arbeitsblatt GW 22 beschrieben.
Demnach muss zunächst geprüft werden, ob bei einer Baumaßnahme eine relevante Hochspannungsbeeinflussung vorliegt. Diese Prüfung erfolgt anhand von Daten zur Lage und zum Verlauf der Leitungen, beispielsweise dem Abstand oder der Länge der Parallelführung. Hinzu kommen die technischen Daten der Hochspannungsanlage. Ist davon auszugehen, dass keine Hochspannungsbeeinflussung auftritt, sind keine besonderen Schutzmaßnahmen erforderlich. Ist dagegen eine relevante Hochspannungsbeeinflussung anzunehmen, muss diese in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden. Das Schutzkonzept und die konkreten Schutzmaßnahmen sind im Rahmen der Planungsphase der Baumaßnahme festzulegen. Dazu gibt es in der GW 22 ausführliche Hinweise.
Das Schutzkonzept kann technische, organisatorische und persönliche Maßnahmen beinhalten. Für die Umsetzung auf der Rohrnetzbaustelle müssen alle Beteiligten (z. B. Anlagenverantwortliche, Arbeitsverantwortliche, Mitarbeitende) über die Gefährdungen und festgelegten Schutzmaßnahmen zum Thema Hochspannungsbeeinflussung informiert und unterwiesen werden.
Beispiele für Schutzmaßnahmen
Technische Schutzmaßnahmen gegen eine kritisch hohe Berührungsspannung oder eine gefährliche Körperdurchströmung können beispielsweise sein:
- eine definierte Erdung der Rohrleitung zur lokalen Absenkung der Berührungsspannung,
- die Herstellung eines Potenzialausgleichs zwischen der Rohrleitung und anderen erdfühligen Teilen oder
- die Einrichtung eines isolierten Standortes.
Zu den organisatorischen Maßnahmen zählt die Unterweisung der Mitarbeiter, speziell zu den festgelegten Schutzmaßnahmen. Auch die Prüfung und Kontrolle der Wirksamkeit der Schutzmaßnahmen (durch Sichtkontrollen oder Messungen) müssen bei den organisatorischen Maßnahmen berücksichtigt werden.
Beispiele für die Persönliche Schutzausrüstung sind isolierende Schutzkleidung oder isolierende Handschuhe und isolierende Schutzmatten.
Der Arbeitsverantwortliche muss für die Einhaltung und Umsetzung der Schutzmaßnahmen sorgen. Bei veränderten Bedingungen muss das Schutzkonzept in Abstimmung mit dem Anlagenverantwortlichen gegebenenfalls angepasst werden.
Ausblick
Das Thema Hochspannungsbeeinflussung an erdverlegten Gasleitungen gewinnt zunehmend an Bedeutung. Mögliche Gefährdungen durch die Hochspannungsbeeinflussung müssen bei Arbeiten in diesem Bereich in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden. Da mehrere Gefährdungsfaktoren zusammenwirken und mehrere Akteure beteiligt sind, stellt die Erarbeitung eines Schutzkonzepts eine besondere Herausforderung dar.
Dr. Christian Rückerl, Dr. Albert Seemann (BG ETEM)
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