Elektrische Gefährdung: Prüfingenieur in einem Elektrolabor macht einen Funktionstest an einer Platine.

Nach einem Funktionstest an Prüfobjekten kann sich bei Berührung die elektrische Ladung über den menschlichen Körper entladen und zu ernsten Verletzungen, zum Teil mit Lebensgefahr führen.

Christian Loy, 31 Jahre jung, arbeitet als Prüfingenieur in einem Elektrolabor für Medizinprodukte. Seit 2019 ist er im Betrieb und kennt sich mit Elektrotechnik gut aus, schließlich hat er eine Berufsausbildung als Mechatroniker und ein Hochschulstudium in Medizintechnik. Direkt nach dem Studium arbeitete er in einer anderen Firma als Prüfingenieur und bringt viel Erfahrung mit. 

Was ist dem erfahrenen Christian Loy passiert?

Während eines Routineversuches im Herbst 2020 trifft den Prüfingenieur ein elektrischer Entladungs-Schlag, von dem er sagt, dass ihn dieser völlig überrascht habe. Deutliche Strommarken am Ring- und Kleinfinger haben ihn danach tagelang an das heftige und schmerzhafte Ereignis erinnert. Er sollte am Unfalltag einen Defibrillator auf Normenkonformität für Medizinprodukte überprüfen. Der Hersteller des Gerätes vergewissert sich durch diesen Test, dass ein interner Gerätefehler zu keiner gefährlichen Fehlfunktion für Patienten oder Anwender führt.

Im ersten allgemeinen Funktionstest arbeitet das Gerät einwandfrei. Für den zweiten Versuch öffnet Christian Loy das Gehäuse und baut in die Steuereinheit einen internen Fehler ein, um im anschließenden Test einen Fehlerfall zu simulieren. Die Norm fordert dann ein sofortiges und vollständiges Abschalten des Defibrillators. Um den eingebauten Fehler gezielt auszulösen, legt sich der Prüfer eine dünne 5-V-Steuerleitung mit Schalter nach außen, verschließt das Gehäuse und schaltet den Defibrillator ein.

Abschalten ist nicht gleich entladen

Nach einigen Sekunden ist dieser einsatzbereit, dann hat sich der interne Kondensator mit 64 µF (Mikrofarad) und einer Spannung von 2,5 kV DC (Kilovolt Gleichstrom) mittels eingebauter Batterie vollständig aufgeladen. Die Ladungsenergie von 200 Joule wird im Notfalleinsatz stoßartig abgegeben und unterbricht das Herzkammerflimmern. Dadurch kann das natürliche Erregungsleitungssystem des Herzens wieder die normale Stimulation übernehmen und der plötzliche Herztod ist verhindert.

Christian Loy löst über den Schalter der Steuerleitung den eingebauten Fehler aus, worauf sich das Gerät normgerecht sofort abstellt und nicht mehr einschalten lässt. Der Defibrillator hat den Test bestanden. Der Prüfer ist zufrieden, öffnet das Gerät, um die Steuerleitung zu entfernen und berührt dabei leitfähige Teile der Platine. Da der Kondensator durch den Versuch noch geladen ist, entlädt sich seine gespeicherte Energie über Christian Loys Körper, er defibrillierte sich quasi selbst. Dabei wird ihm schwarz vor den Augen und übel, Hand und Arm schmerzen. Kollegen bringen ihn zum Arzt, weil niemand weiß, ob der Unfall gefährlich war oder nicht.

Das Schaltbild zeigt, wie es durch das ungeschützte Anfassen von Kondensator Anschlüssen zu einer ungewollten Entladung beim Prüfvorgang eines Defibrillators kommen kann.

Das Schaltbild zeigt, wie es durch das ungeschützte Anfassen von Kondensator-Anschlüssen zu einer ungewollten Entladung beim Prüfvorgang eines Defibrillators kommen kann.

Entladungsunfälle passieren immer wieder

Im Prüflabor oder im Prüffeld übersehen Nutzer häufig die Gefahr der elektrischen Auf- und Entladung, weshalb davon selten etwas in der Gefährdungsbeurteilung steht.

Aufladungen werden häufig durch Versorgungs- und Prüfspannungen an elektrischen Bauelementen und Betriebsmitteln erzeugt. Typische Aufladungsobjekte sind Kondensatoren, elektrische Leitungen, Wicklungen in Motoren und Transformatoren (siehe Tabelle 2). Eine fehlende oder unzureichende Entladung dieser Bauteile führt oft zu elektrischen Unfällen beim Berühren. Entladungsströme sind sehr kurz und entstehen, wenn Kontaktierungsstellen eines elektrisch aufgeladenen Gegenstandes überbrückt oder berührt werden. Dabei entlädt sich der Gegenstand, wobei ein Strom vom Prüfobjekt durch den Menschen fließt. Wie stark der Stromfluss ist, hängt von der gespeicherten Ladungsmenge mit der Einheit Coulomb (C) ab.

Aus dem Unfall lernen

Entladungsunfälle können Folgeunfälle durch Erschrecken verursachen und sind häufig mit Krankschreibungen und Verunsicherungen bei den Beschäftigten verbunden. So auch bei Christian Loy, dem es heute wieder gut geht. Er weiß inzwischen genau, warum ihm der Unfall passiert ist. Bei der Unfalluntersuchung mit dem Präventionsdienst der BG ETEM erzählt er, dass er beim Versuchsaufbau übersehen habe, dass der Kondensator nach Testende noch aufgeladen sein könnte, denn im Normalbetrieb entlädt sich dieser beim Abschalten. Im Fehlerfall ist der Kondensator aber weiterhin geladen, was bei geschlossenem Gehäuse unproblematisch ist.

Gefährdungsbeurteilung anpassen

Um künftig Entladungsunfälle zu verhindern, will der Betrieb jetzt die Gefährdungsbeurteilung für das Elektrolabor anpassen und danach alle Prüfkräfte intensiv schulen. Während der Unfalluntersuchung mit dem Präventionsdienst der BG ETEM kommen viele Fragen auf. Ab welcher Stärke sind Entladungen bei elektrischen Prüfungen für den Menschen gefährlich? Gibt es Grenzwerte, wie ermittelt man die Aufladefähigkeit von Prüfobjekten und entlädt diese sicher?  

Je nachdem, wie stark eine Körperdurchströmung durch eine elektrische Entladung ist und wie lange diese dauert, kann der Mensch vorübergehend oder dauerhaft geschädigt werden. Häufige vorübergehende Folgen sind gereizte Nerven-, Muskel- und Sinneszellen mit Taubheitsgefühlen und Lähmungserscheinungen in den betroffenen Körperteilen. Störungen des Hör- und Gleichgewichtssinns und zeitweise Bewusstseinsstörungen sind ebenfalls möglich. Bei höheren Stromstärken, die an den Ein- und Austrittstellen am Körper Strommarken hinterlassen, kann es zu Herzkammerflimmern bis hin zu dauerhaften Schäden des zentralen Nervensystems und des Herzens kommen. Auch ein akuter Atem- und Herzstillstand mit Tod des Betroffenen ist möglich.

Schutzmaßnahmen ab 350 Millijoule

In welcher Größenordnung elektrische Ladungen wahrnehmbar und schmerzhaft sind, beschreiben verschiedene technische Normen und Regeln (siehe Tabelle 1). Für elektrische Prüfplätze und Prüflabore ziehen Betreiber die DIN EN 50191 (VDE 0104) (Ausgabe 2011) „Errichten und Betreiben elektrischer Prüfanlagen“ heran, deren Vorgaben in der DGUV Information 203-034 (ehemals BGI 891) umfänglicher beschrieben sind. In beiden Publikationen wird für die elektrische Aufladungsenergie ein Grenzwert 350 Millijoule (mJ) genannt. Sobald die Entladungsenergie höher ist, müssen Schutzmaßnahmen zur sicheren Entladung getroffen werden.

Keine Gefährdung unterhalb von 50 Mikrocoulomb

Der obere Teil der Tabelle 1 zeigt, dass es je nach Regelwerk verschiedene Grenzwerte gibt. Maßgeblich sind 350 mJ (Millijoule) Entladungsenergie als auch die elektrische Ladung von 50 μC (Mikrocoulomb). Es empfiehlt sich, oberhalb von 15 kV (Kilovolt) den Wert von 350 mJ und unterhalb von 15 kV den Wert von 50 μC für die Gefährdungsbeurteilung anzuwenden. Unterhalb einer Spannung von 60 V DC (Gleichstrom) kann die elektrische Körperdurchströmung als gering wahrnehmbar und damit wenig gefährdend eingestuft werden. Tabelle 2 zeigt, in welcher Dimension sich verschiedene Prüflinge aufladen können. Häufig werden bei Isolationswiderstandsmessungen und Hochspannungsprüfungen schon bei Werten ab 500 V DC die Energiewerte von 350 mJ überschritten.

Maximale Entladungsenergie berechnen

Doch wie können Prüfkräfte nun ermitteln, wie hoch die maximale Entladungsenergie ihres Prüflings sein kann? Bei Kondensatoren reicht es meistens aus, die Betriebsspannung beziehungsweise die maximal zulässige Kondensatorspannung und die Kapazität zu ermitteln. Diese Werte sind auf den Kondensatoren aufgedruckt und stehen auch in den Datenblättern der Bauteile.

Die wirksame Kapazität von Leitungen, Kabeln und Wicklungen kann mittels Kapazitätsmessfunktionen von Prüfgeräten und Multimetern ermittelt werden.
Die maximale Ladungsenergie wird dann mittels der Formel

W (Ladungsenergie) = ½ * C (Kapazität) * U²max (Maximalspannung)

bestimmt.

Für den o. g. Defi würde die Rechnung so aussehen:

W = ½ * 64 µF * (2,5 kV)² = 200 Joule

Liegt die ermittelte Ladungsenergie über den bereits genannten Grenzwerten, müssen Prüfkräfte Schutzmaßnahmen ergreifen (Tabelle 2). Bei automatischen Prüfanlagen oder solchen mit zwangläufigem Berührungsschutz soll das Prüfobjekt bei der Entnahme sicher entladen sein. Eine sichere Entladung liegt bei Ladespannungen unterhalb von 60 V DC oder bei höheren Spannungen bei einer Ladungsenergie unter 0,5 mJ vor. Ein automatischer Entladungsprozess muss technisch sicher eingerichtet sein.

Entladungsmaßnahmen ohne Berührungsschutz

An Prüfplätzen ohne zwangläufigen Berührungsschutz haben sich folgende sichere Entladungsmaßnahmen bewährt:

  1. manuelles Entladen mithilfe von Erdungs- und Kurzschlussschaltern, Spannungsmessgeräten und Spannungsprüfern, Tastkopf mit Oszilloskop (hierbei wird der Geräteinnenwiderstand als Entladewiderstand genutzt).
  2. Kurzschließen (Laborleitungen, Überbrückungsleitungen, leitfähige Materialien)
  3. Selbstentladung nutzen (z.B. Aufbewahrungsbox)

Elektrische Gefährdungen: Messen der Kondensatorspannung an einem unter Spannung stehenden Bauteil, links daneben Messgerät mit Spannungsanzeige.

Beim Messen von gefährlichen Spannungen an berührbaren Bauteilen wie z. B. Kondensatoren muss man sich vor dem elektrischen Schlag schützen.

Da Christian Loy häufig Defibrillatoren an Prüfplätzen ohne zwangläufigen Berührungsschutz prüft, wird er seinen Prüfaufbau künftig so gestalten, dass er über einen Tastkopf und Oszilloskopen den Kondensator sicher und sichtbar entlädt. Er kennt nun die Tücken elektrisch aufgeladener Prüflinge und wird seine Versuche nun immer mit sicherer Entlademöglichkeit planen und aufbauen.

 

Jenny Blumenthal und Falk Florschütz