Mehr als 3.500 Stromunfälle wurden der BG ETEM im Jahr 2020 gemeldet. In den meisten Fällen war Fehlverhalten von Beschäftigten die Ursache – genauer: das Nichteinhalten der 5 Sicherheitsregeln.

Seltener sind Unfallursachen technischer Natur. Kommt es in diesen Fällen durch glückliche Umstände nicht zu einem Arbeitsunfall, erfährt die BG in der Regel nichts davon. Dann haben die Fachleute der BG ETEM jedoch auch keine Möglichkeit, z. B. mit Herstellern von möglicherweise unsicheren Produkten, Kontakt aufzunehmen und Ursachen zu ermitteln.

Die folgenden Beispiele aus den letzten Jahren zeigen, dass beim Arbeiten an elektrischen Anlagen das Mitdenken und die Aufmerksamkeit der Beschäftigten nach wie vor unerlässlich sind.

Einpolig zu schaltende Gießharz-isolierte Mittelspannungsschaltanlage

Dank der platzsparenden Kompaktbauweise sind diese Anlagen im letzten Jahrhundert verbreitet gebaut worden, von einigen Netzbetreibern noch bis in die 1990er-Jahre. Sie sind einpolig zu schalten – was aufgrund der dabei zwangsläufig entstehenden, kurzzeitigen Unsymmetrie im Netz zu Problemen führen kann.

Ein Beschäftigter erlitt eine Körperdurchströmung, als er zur Bestimmung der Phasenlage in einem Abgangskabel einen Prüfadapter einführte (Abbildung 1). Vermutlich lag ein Defekt innerhalb der Anlage vor (die Untersuchungen dauern noch an).

Einpolig zu schaltende Gießharz-isolierte MS-Anlage.

Abb. 1. Gießharz-isolierte MS-Schaltanlage mit eingeführtem Prüfadapter nach dem Unfall.

Schaltwerkzeug mit Verwechslungsgefahr

In älteren Mittelspannungsanlagen müssen zum Betätigen von Erdungsschaltern und Lasttrennschaltern Schaltwerkzeuge benutzt werden. An der Frontseite der Schaltanlagen sind die entsprechenden Öffnungen zum Einführen der Schaltwerkzeuge gekennzeichnet. Verschiedene Hersteller haben aber für die Betätigung der unterschiedlichen Schalter lediglich ein einziges Schaltwerkzeug vorgesehen (Anlage Baujahr 1990, Abbildung 2).

Dadurch begünstigt haben Beschäftigte mehrfach versehentlich – statt den Erdungsschalter einzulegen – den Lasttrennschalter wieder eingeschaltet. Je nach Schaltzustand kam es dadurch entweder zu einem Kurzschluss oder ein zuvor freigeschalteter Anlagenteil wurde unbewusst wieder unter Spannung gesetzt.

Die Hersteller haben diese Problematik erkannt und bei neueren Anlagen die Schaltwerkzeuge codiert. Dadurch wurde die Verwechslungsgefahr verringert.

Grauer Schaltschrank mit Hebel Lasttrenner und Erder Siemens 8DJ20 und 8DJ10.

Abb. 2: Manche Hersteller von älteren Mittelspannungsanlagen haben für die Betätigung der unterschiedlichen Schalter nur ein Schaltwerkzeug vorgesehen. Deshalb haben Beschäftigte mehrfach versehentlich den Lasttrennschalter wieder eingeschaltet (links). Die Hersteller haben diese Problematik erkannt und bei neueren Anlagen die Schaltwerkzeuge codiert (rechts).  

Durchfeuchteter Schutzanzug für Arbeiten unter Spannung

Elektrisch isolierende Schutzanzüge für bestimmte Arbeiten unter Spannung dürfen bei Nässe oder hoher Luftfeuchtigkeit (Regen, Nebel) nicht benutzt werden. Der Grund: Das Isoliervermögen der Anzüge könnte gefährlich herabgesetzt werden. Entsprechende Hinweise in den Unterlagen der Hersteller schließen damit auch ein Durchfeuchten von innen infolge starken Schwitzens ein.

Das ist aber offenbar nicht allen Anwendern bewusst. So erlitt ein Monteur bei Isolierarbeiten an einer Freileitung an einem heißen Sommertag einen Stromeintritt am Oberarm, weil sein isolierender Schutzanzug durchgeschwitzt war. Arbeiten unter Spannung mit isolierenden Anzügen sollten daher wegen der zu erwartenden Durchfeuchtung nicht nur bei Regen oder Nebel, sondern auch bei hohen Temperaturen unterbleiben.

NH-Lastschaltleiste mit zu geringen Abständen

Beim Schließen einer NH-Sicherungslastschaltleiste kam es zu einem Kurzschluss mit Lichtbogenbildung. Bei der Untersuchung der Lastschaltleiste (Abbildung 3) in der Prüfstelle der BG ETEM wurde festgestellt, dass der Abstand zwischen der L2-Schiene und der leitfähigen Kopfplatte des Sicherungseinsatzes in Phase L3 lediglich 0,7 mm beträgt. Die Norm fordert jedoch eine Mindestluftstrecke von 1,5 mm. Die mangelhafte Lastschaltleiste ist 35 bis 40 Jahre alt, der Hersteller wurde informiert.

Defekte Lastschaltleiste.

Abb. 3: NH-Sicherungslastschaltleiste nach dem Unfall mit eingelegter NH-Sicherung.

Gelöstes Schutzgitter in einer Kompaktstation

Kompaktstationen sind nicht begehbare Transformator-/Ortsnetzstationen, die von außen geschaltet werden. Beim Öffnen der Tür einer ca. acht Jahre alten Station wurde festgestellt, dass sich das feinmaschige sog. Stocher- oder Insektenschutzgitter an der Innenseite der Tür gelöst hatte. Glücklicherweise wurde dadurch kein Kurzschluss an den Ableitungen des Transformators ausgelöst.

Das Gitter war in den Rahmen auf der Tür lediglich eingeklemmt. Der Netzbetreiber hat es deshalb nachträglich mit Nieten befestigt.

Illustration Trafo-Kompaktstation mit abgelöstem Schutzgitter auf der Türinnenseite.

Abb. 4: Kompaktstation mit abgelöstem Schutzgitter auf der Türinnenseite.

Mechanischer Fehler in einer SF6-Schaltanlage mit Motorantrieb

In einer SF6-isolierten 10-kV-Schaltanlage entstand ein Lichtbogen, wodurch ein Beschäftigter Verbrennungen erlitt. Die Anlage war zum Unfallzeitpunkt 19 Jahre alt (Baujahr 1996) und nur selten geschaltet und gewartet worden. Ursache des Unglücks war ein sog. Dreistellungsschalter (EIN – AUS – GEERDET), der einen Defekt an einer mechanischen Sperrklinke und zusätzlich am Motorendschalter hatte. Dadurch war es möglich, dass der Motor die Schalterwippe von EIN über AUS in die Stellung GEERDET drehen und damit einen Erdschluss erzeugen konnte.

Der Schalter war zwar grundsätzlich kurzschlussfest, aber durch die blockierte Sperrklinke war der Sprungfederantrieb von der Schalterwelle entkoppelt. Infolgedessen konnte es zu einer langsamen Annäherung der Schalterwippe an den Kontakt GEERDET kommen – wodurch der Kurzschlussschutz nicht mehr gegeben war.

SF6-Schaltanlage mit Motorantrieb nach dem Unfall (rechts die Bodenöffnung und Verrußung durch den Störlichtbogen).

Abb. 5: SF6-Schaltanlage mit Motorantrieb nach dem Unfall (rechts die Bodenöffnung und Verrußung durch den Störlichtbogen).

Die Folge: Die freigesetzte Lichtbogenenergie wurde in den Doppelboden der Station abgeleitet. Sie hätte auch keinen Personenschaden verursacht, wenn der Boden vollständig geschlossen gewesen wäre. Durch die Bodenöffnung zwischen der Schaltanlage und der Außenwand (Abbildung 5, rechts) fanden der Lichtbogen und die heißen Gase aber einen Weg nach oben – und verbrannten den Beschäftigten an der rechten Körperseite.

 

Hartmut Oelmann