Ausweg aus der Krise

Immer häufiger stellen Betriebsärzte psychische Beschwerden von Beschäftigten fest. Bei einem Vertrauensverhältnis zwischen ihnen, Ärzten und Unternehmensleitung lassen sich Probleme aber oft lösen.

Die Grafik zeigt einen Mann, der vor einer Person mit einem Klemmbrett und einem Stift in der Hand sitzt. Im Hintergrund sieht man durch ein Fenster eine Hausfassade, daneben an der Wand die Darstellung eines Gehirns.

Neues Versorgungsmodell: Die Biopsychosoziale Medizin betrachtet und behandelt Körper, Psyche und Umwelt als Einheit.

Die Seele rettet sich

Aus dem gesamten Lebensumfeld – beruflich und privat – prasseln ständig ungezählte Einflüsse auf den Menschen ein. Jeder verfügt über seine eigenen, individuell unterschiedlichen Strategien, die sie oder er unbewusst, aber gezielt zur Bewältigung des Alltags einsetzt. Schwierige und stressige Zeiten oder Krisen werden so gut und ohne Schaden überwunden. Aus verschiedenen Gründen können diese Anpassungsmechanismen aber aus dem Gleichgewicht geraten. Plötzlich funktionieren die bisherigen Bewältigungsmuster nicht mehr; Körper und Seele können mit Veränderungen und sogar mit starken körperlichen Symptomen reagieren, z. B. mit Schmerzen.

Wo sich Zahlen finden

Gesundheits- oder Fehlzeitenberichte der Krankenkassen (z. B. DAK Gesundheitsreport 2019, AOK Fehlzeitenreport 2019) listen die Zahl der Krankmeldungen und der Behandlungen durch Ärzte nach Erkrankungsart und Häufigkeit auf. Dabei treten die eigentlichen Ursachen einer Erkrankung oft in den Hintergrund. Selbst ein Knochenbruch, der auf den ersten Blick offensichtlich Folge eines Unfalls war, kann individuelle Ursachen haben, aber auch Folgen nach sich ziehen.

In den Statistiken der Krankenkassen werden solche Diagnosen nach der „Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandte Gesundheitsprobleme“ (10. Revision = ICD-10) erfasst, z. B. unter der Verschlüsselungsnummer „Anhaltende somatoforme Störungen“ (F 45.40).

Somatoforme Störungen sind Beschwerden oder Erkrankungen, für die sich keine ausreichend erklärbare körperliche Ursache findet. Häufig sind es Beschwerden des Herz-Kreislauf-Systems (z. B. „Herzschmerzen“, Luftnot, Engegefühl im Hals u. a.). Aber auch für chronische Schmerzen lässt sich die auslösende Ursache nicht immer sofort finden.

Trotzdem sind die Beschwerden da, oft auch massiv, sodass für die Betroffenen weite Teile des Berufs- und des Privatlebens eingeschränkt sein können. Oft dauert es Jahre, bis man den Beschwerden und dem Leiden mit Lösungen näher kommt. Auf jeden Fall ist eine sorgfältige Abklärung der Symptome erforderlich, um mögliche Ursachen (z. B. ein Tumorleiden) erfassen oder ausschließen zu können („Differentialdiagnose“). Die dadurch hervorgerufenen Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen liegen seit Jahren in der Rangliste der Krankheitsursachen ganz oben.

Erste Schritte

Annette Freude ist Ärztin für Allgemeinmedizin – mit Leib und Seele. Sie weiß, dass der Mensch von seiner Umwelt nicht getrennt zu sehen und zu behandeln ist. Sie hat sich im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtungs- und Behandlungsweise fortgebildet und zudem die ärztliche Zusatzqualifikation „Psychosomatische Grundversorgung“ erlangt. Daher kann sie sich auch ein vollständiges Bild von Wolfgang Bitters Situation machen und mit ihm nach Unterstützung und Lösungen suchen. Aus dem letzten Gespräch mit dem Beschäftigten wird Annette Freude klar, dass Wolfgang Bitter neben der derzeitigen persönlich privaten Krise die Arbeitssituation sehr belastet.

Arbeitsschutz – Prävention

Psychische Belastungen bei der Arbeit sind seit 2013 im Arbeitsschutzgesetz formuliert. Demnach hat der Arbeitgeber die Arbeit so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie für die physische und psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird.

Der Unternehmer muss bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen durch die Gefährdungsbeurteilung folgende Bereiche erfassen:

  • Arbeitsinhalt oder Arbeitsaufgabe (z. B. Handlungsspielraum),
  • Arbeitsorganisation (z. B. Arbeitszeit, Kommunikation),
  • soziale Beziehungen zwischen Kollegen oder Vorgesetzten,
  • Arbeitsumgebung (z. B. Lärm, Arbeits­mittel).

Betriebsärzte unterstützen das Unternehmen oder den Betrieb bei der Gefährdungsbeurteilung (s. „info“, Punkt 1).

Wozu Betriebsärzte da sind

Arbeitsmediziner oder sogenannte Betriebsärzte – offiziell: Fachärzte mit der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ – beraten Unternehmerinnen und Unternehmer zu allen Fragen des Gesundheitsschutzes. Unter Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht untersuchen und beraten sie die Beschäftigten unter den Aspekten der betriebsspezifischen, arbeitsbedingten Gefährdungen.

Jedes Unternehmen – auch solche mit nur einem Mitarbeiter – muss laut Arbeitssicherheitsgesetz einen Betriebsarzt bestellen. Dieser soll den Unternehmer beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung unterstützen. Die Aufgaben des Betriebsarztes werden in § 3 des Arbeitssicherheitsgesetzes konkret aufgeführt. Je nach betrieblichem Betreuungsmodell im Sinne der DGUV Vorschrift 2 „Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit“ (s. „info“, Punkt 2) kann der Unternehmer dem Betriebsarzt Aufgaben übertragen, wie sie u. a. in der DGUV Vorschrift 2 unter dem Thema Aufgabenfelder und mögliche Aufgaben im Anhang 3 formuliert sind.

Angehende Fachärzte für Arbeitsmedizin und Betriebsärzte lernen in ihrer Weiterbildung zum Facharzt oder zum Erwerb der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ aufgrund gesicherter arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse die Zusammenhänge zwischen arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren und den (Aus-)Wirkungen auf den Menschen kennen. Die Beurteilung, welche Arbeitsbedingungen zu Beschwerden oder Erkrankungen führen können, gehört zu ihren zentralen Aufgaben. Dabei kann es sich sowohl um – zum Beispiel – schädigende Wirkungen von Gefahrstoffen als auch um für die Beschäftigten förderliche Wirkungen durch eine gute Arbeitsorganisation handeln.

Betriebsärzte mit besonderem Interesse für das Erkennen von psychischen, funktionellen und psychosomatischen Erkrankungen können sich nach den Vorgaben der Bundesärztekammer im Sinne der sogenannten Psychosomatischen Grundversorgung fortbilden.

Betriebsärzte und Unternehmen bilden Kooperationen

Wenn Betriebsärzte großer Unternehmen sich austauschen, berichten sie immer häufiger von Mitarbeitenden mit psychischen Beschwerden oder Störungen. Patienten in ambulanter oder stationärer Behandlung wegen psychischer oder psychosomatischer Störungen berichten ihrerseits über schwierige Arbeitssituationen in Unternehmen und Betrieben, sodass sie der Rückkehr an den Arbeitsplatz sorgenvoll entgegensehen.

Daher findet zunehmend ein Austausch und eine Kooperation zwischen Fachärzten von Fachkliniken und Unternehmen und deren Betriebsärzten statt, z. B. als „Sprechstunde zur psychischen Gesundheit im Betrieb“ (s. „info“, Punkt 3). Die Beratung findet im Sinne einer ganzheitlichen Sichtweise des Menschen statt, z. B. nach dem sogenannten biopsychosozialen Modell.