Menschen werden mit der Neigung geboren, Hunger und Durst zu stillen, unangenehmen Tatsachen auszuweichen, Verluste zu vermeiden und sich vor Spinnen zu fürchten. Automatische Programme, die ununterbrochen das Verhalten regulieren. Nur der geringste Teil des Verhaltens resultiert aus bewussten Entscheidungen. Rationale Abwägungen brauchen Zeit und kosten Kraft. Besonders in Arbeitsprozessen, wenn viele Reize gleichzeitig auf uns einwirken, fällt es uns schwer, gute Entscheidungen für unsere Sicherheit und Gesundheit bewusst zu treffen. Wir lassen uns durch ungünstige Bedingungen zu unsicherem Verhalten verleiten. Zum Beispiel verzichten viele Beschäftigte auf den Gehörschutz, weil er unbequem ist, oder sie vergessen die Schutzbrille wieder aufzusetzen, nachdem sie kurz den Sicherheitsbereich verlassen haben. Um die Unfallzahlen zu senken und sicheres Verhalten zu fördern, sollten Arbeitsbedingungen von vornherein so gestaltet werden, dass sie sicheres und gesundes Verhalten erleichtern.
Nachweislich zeigen Menschen ein sichereres und gesünderes Verhalten eher, wenn Entscheidungssituationen so gestaltet sind, dass sie die Aufmerksamkeit unmittelbar auf das Wichtigste lenken und relevante Informationen direkt erkennbar und verständlich sind. Außerdem muss das Verhalten im Einklang mit den eigenen Werten und denen unseres sozialen Umfeldes stehen.
Das Verhalten sollte möglichst bequem und einfach sein. Idealerweise sollte gewünschtes Verhalten mit positiven Gefühlen und unerwünschtes Verhalten mit negativen Gefühlen einhergehen. Werden diese Kriterien berücksichtigt, ist auch in kritischen Situationen das sichere und gesunde Verhalten wahrscheinlicher.
Eine Methode, die diese Aspekte zusammenfasst und für die Arbeitsgestaltung genutzt werden kann, ist „Nudging“. Das englische „Nudge“ steht für sanftes Anstupsen. Ziel von Nudges ist es, das Verhalten von Menschen zu beeinflussen, ohne dabei finanzielle Anreize zu verändern oder Optionen auszuschließen. Übertragen auf den Arbeitsschutz heißt das: Es geht nicht darum, weitere Regeln aufzustellen und Fehlverhalten zu sanktionieren. Vielmehr sollen Anreize dafür geschaffen werden, sich wie selbstverständlich sicher und gesund zu verhalten.
Isabell Kuczynski
Neue Broschüre „Nudging: kreative Ideen für sicheres und gesundes Verhalten“
Erfolgreich wird Nudging, wenn dies von der Leitung unterstützt wird und in einen systematischen Prozess eingebunden ist. Diesen Prozess beschreibt eine neue Broschüre der BG ETEM. Sie beginnt mit einem Rundgang durch den Betrieb oder die Abteilung, bei dem mit anschaulichen Materialien unsichere Situationen – z. B. fehlende Persönliche Schutzausrüstung (PSA) – beobachtet und notiert werden. Daraufhin werden in einem Kreativ-Workshop mit den Zielpersonen verschiedene Anstupser (Nudges) entwickelt. Dafür analysieren die Beteiligten, wegen welcher Bedingungen im Arbeitsumfeld sich die Zielpersonen nicht sicher und gesund verhalten haben – und was sie stattdessen brauchen.
Ein übersichtliches Poster führt durch den Workshop. Menschliche Verhaltensprinzipien werden darauf illustrativ mit Cartoons und erläuternden Leitfragen in den Prozess eingebunden. Neuartige und ungewöhnliche Ideen stehen dabei im Vordergrund. So wird sichergestellt, dass die vorgebrachten Ideen von den Menschen auch angenommen werden. Im Anschluss werden in einem Entscheidungstreffen die Ideen zu Maßnahmen ausformuliert und die Umsetzung geplant.
Dieser Dreischritt – 1. Beobachtung, 2. Entwicklung, 3. Umsetzung – berücksichtigt in jedem Schritt menschliche Verhaltensprinzipien und setzt auf ein beteiligungsorientiertes Vorgehen. Maßnahmen werden dadurch für alle Beteiligten nachvollziehbarer und die Beweggründe für das sichere und gesunde Verhalten kommen von den Beschäftigten selbst.
→ info
Die Broschüre „Nudging: Kreative Ideen für sicheres und gesundes Verhalten“: www.bgetem.de, Webcode M20605007
Abstand durch sanfte Stupser am Handgelenk
Es begann mit einem Workshop, jetzt ist Nudging aus den Köpfen bei Oerlikon nicht mehr wegzudenken. Auch bei der Umsetzung der Verhaltensregeln im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie suchte der Konzern nach kreativen Lösungen. Eine Lösung ist ein digitaler Abstandwarner, den die Beschäftigten am Handgelenk tragen und der Ihnen Rückmeldung gibt, sobald sie den Mindestabstand zu anderen Personen unterschreiten (erst leuchtet eine Warnleuchte auf, dann ertönt ein Warnton). Diese sensorbasierte Technologie „nudged“ die Beschäftigten somit dazu, den nötigen Abstand wiederherzustellen.
Diese Art des Hilfsmittels überzeugt dadurch, dass sie mehrere Nudging-Prinzipien berücksichtigt. Zum einen ist es vergleichsweise bequem, am Handgelenk einen Abstandwarner zu tragen und sich damit frei bewegen zu können, solange der Abstand eingehalten wird. Wird der Abstand einmal nicht eingehalten, ist man durch das visuelle und auditive Feedback direkt gewarnt. Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem falschen Verhalten und der direkten Konsequenz durch die Warnung führt automatisch dazu, den Abstand zu vergrößern. Da alle Mitarbeitenden das Gerät tragen, entsteht ein Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe und ein unterstützendes Miteinander. Einerseits schützt man sich selbst, aber auch die anderen und leistet damit seinen eigenen kleinen Beitrag dazu, dass das Virus sich nicht weiterverbreitet. Das Selbstbild wird damit auch aktiviert, denn man tut etwas Gutes und kann auch beruhigt nach der Arbeit wieder nach Hause fahren, weil man weiß, dass man keine Gefährdung mit nach Hause nimmt.
Ein weiterer Aspekt, der nudged, ist die günstige Voreinstellung dadurch, dass man mit dem Warner auch die Bewegungsdaten aufzeichnen kann und damit auch weiß, wer geschützt werden muss, falls es doch zu einer Infektion bei einem Mitarbeitenden kommen sollte. Es sollte jedoch sichergestellt sein, dass der Datenschutz gewahrt wird und dass die Beschäftigten freiwillig an dieser Maßnahme teilnehmen. Dafür bedarf es natürlich einer eindeutigen Aufklärung über Zweck und Ziel der Maßnahme.
Dieses Beispiel zeigt recht anschaulich, dass auch bei der Auswahl an Hilfsmitteln und Schutzausrüstung die Nudging-Prinzipien berücksichtig werden sollten, damit das sichere und gesunde Verhalten wahrscheinlicher wird.
„Goldmine“ zur Förderung von sicherem Verhalten
Isabell Kuczynski, Arbeitspsychologin bei der BG ETEM, im Gespräch mit Michael Ribbe, Leiter für Gesundheit, Arbeitssicherheit und Umwelt bei Oerlikon, weltweiter Anbieter für Oberflächenlösungen, über Nudgingerfolge.
Wie sind Sie zum Thema Nudging gekommen?
Michael Ribbe: In der Arbeitssicherheit haben wir bei Oerlikon in den letzten Jahren sehr gute Fortschritte erzielt. Unfallraten und Unfallschwere sinken kontinuierlich. Wir analysieren jeden Unfall sehr genau und stellen immer wieder fest, dass viele Unfälle in Bereichen passieren, wo die Unfallgefahr bekannt ist und eine sichere Arbeitsweise klar festgelegt ist.
Wir haben uns also gefragt, wie man erreichen kann, dass die Kolleginnen und Kollegen, die alle Regeln einer sicheren Arbeitsweise kennen, diese auch wirklich anwenden. Das beginnt zum Beispiel schon beim Tragen von Schnittschutzhandschuhen, wenn man ein Cuttermesser verwendet. Nudging hat hier ein riesiges Potenzial. Wir sehen Nudging als eine „Goldmine“ dafür, ein sicheres und gesundes Verhalten zu fördern. Stichwort: „Bring health & safety to the next level“, also: Bringen Sie Gesundheit und Sicherheit auf ein höheres Niveau. Das gilt gerade auch in Zeiten von Corona, z. B. zur Einhaltung der Mindestabstände oder zur Handdesinfektion.
Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Wir sind bei Oerlikon seit Anfang 2019 dabei, unsere Erfahrungen mit Nudging zu vertiefen. Unser Ziel ist es, eine Methode für unser Unternehmen weltweit zu entwickeln. In dieser Phase kamen wir mit der BG ETEM in Kontakt und konnten gemeinsam zwei Workshops an unseren Standorten Bergisch Gladbach und Bingen durchführen. Unter Moderation der BG ETEM wurde die Methode erfolgreich getestet, wobei sie aufgrund der Erfahrung des ersten Workshops noch weiter verbessert werden konnte. Mit dem Wissen des zweiten Workshops waren wir in der Lage, einen dritten in Schopfheim ohne BG-Hilfe erfolgreich zu veranstalten.
Welcher Mehrwert hat sich durch Nudging für Sie ergeben?
Konkret konnten wir an allen drei Standorten zusammen mehr als zehn Verbesserungsmaßnahmen umsetzen. In Schopfheim haben uns zwei Stunden gereicht, um parallel mit zwei Teams von je sechs Personen je ein Problem zu analysieren und eine Lösung zu erarbeiten. Der Ablauf bestand aus einer kurzen Einführung in die Vorgehensweise, der Teamarbeit selbst und einer Nachbesprechung mit Feedbackrunde.
Die Beschäftigten waren von der einfachen Methode ohne lange theoretische Präsentation begeistert. Sie zeigten eine hohe Motivation, nicht zuletzt deshalb, weil jeder zur Lösung beitragen konnte und weil ausreichend Raum für kreative Ideen bestand. Die Beschäftigten entwickeln eigenständig weitere Maßnahmen, um das gestellte Problem zu lösen. Am Ende waren die Beschäftigten sehr stolz auf ihre Ideen – und deshalb bin ich es natürlich auch. Dieser Test hat gezeigt, dass die Methode funktioniert.
Was ist Ihrer Meinung nach für eine erfolgreiche Umsetzung von Nudging wichtig?
Wichtig ist, dass die lokale Geschäftsleitung die Vorgehensweise unterstützt. Das sollte aber eigentlich nie ein Problem sein, denn diese Methode fördert die Motivation, sie geht schnell und es fallen bei der Durchführung des Workshops keine externen Kosten an. Es ist nur wenig Textmaterial zur Durchführung eines Workshops erforderlich.
Ohne Moderation geht es jedoch nicht, denn die moderierende Person stellt sicher, dass die Suche nach einer Lösung auf „kreativen Pfaden“ erfolgt. Die Person, die einen Workshop moderiert, braucht keine aufwendige Schulung. Selbst einmal an einem Workshop teilgenommen zu haben, sollte ausreichen. Wichtig ist das Nachhalten der Maßnahme, da der eigentliche Maßnahmenplan im Nachgang erstellt und umgesetzt werden muss.
Werden Sie die Methode weiter einsetzen?
Definitiv! Wir sind so begeistert von dem Erfolg, dass wir die Materialien nach Absprache der BG ETEM ins Englische übersetzt und ein wenig an Oerlikon angepasst haben. Wir werden die Vorgehensweise über Pilotprojekte in verschiedenen Ländern in diesem Jahr global ausrollen.
Diesen Beitrag teilen