Das Arbeiten unter Spannung (AuS) ist ein in der Praxis bewährtes Arbeitsverfahren in der Elektrotechnik – vorausgesetzt, Beschäftigte halten die in der jeweiligen Arbeitsanweisung festgelegten Schutzmaßnahmen ein. Nur besonders ausgebildete Elektrofachkräfte dürfen AuS ausführen. Die Ausbildung allein garantiert aber noch nicht, dass sich die ausführende Elektrofachkraft risikobewusst und verantwortungsvoll verhält. Führungskräfte sind daher für deren Auswahl und Kontrolle besonders verantwortlich.
Tätigkeiten mit tödlichen Gefährdungen können tatsächlich tödlich enden, wenn Schutzmaßnahmen nicht eingehalten werden. Das zeigt ein Arbeitsunfall bei Arbeiten unter Spannung im September 2021.
Ein Mitarbeiter der Partnerfirma eines Energieversorgers hatte den Arbeitsauftrag, Arbeiten unter Spannung auszuführen. Dafür lagen zwingende Gründe vor. Das Ziel: einen neuen Hausanschluss mittels Abzweigmuffe von der Hauptleitung herstellen sowie den alten Anschluss an anderer Stelle trennen und dauerhaft mit einer Verschlusskappe sichern.
Die Arbeiten zur Herstellung des neuen Hausanschlusses waren bereits abgeschlossen. Das erste Muffenloch wurde von den Tiefbauern wieder verfüllt. Der Monteur arbeitete am Boden des zweiten Muffenlochs am alten Abzweig. Zum Unfallzeitpunkt war er dabei, die bereits getrennte Leitung einzukürzen. Die Außenisolierung war entfernt und die Einzeladern waren freigelegt.
Eine Einzelader war bereits gekürzt und mit einer Aderendhülse gegen Berühren gesichert. Zum Elektrounfall kam es, als der Monteur versuchte, eine weitere Leitungsader bei einer Berührungsspannung von 230 V AC gegen Erde einzukürzen.
Sicherheitsausrüstung nicht genutzt
Entgegen der Arbeitsanweisung benutzte der AuS-Monteur nur eine der festgelegten Sicherheitsausrüstungen, nämlich einen bis 1000 V isolierten Seitenschneider. Alle anderen Bestandteile der Sicherheitsausrüstung befanden sich unbenutzt im Montagefahrzeug.
Der Monteur trug weder die bis 1.000 V isolierenden Gummihandschuhe noch den AuS-Arbeitsanzug noch den AuS-Helm mit Gesichtsschutz zum Schutz gegen einen Störlichtbogen. Das Muffenloch war nicht mit isolierenden Gummitüchern ausgekleidet.
Folglich bestand die Sicherheitskette bei der Ausführung der Arbeit nur noch aus einem Kettenglied statt aus den vorgeschriebenen fünf Kettengliedern:
- isoliertes Werkzeug,
- isolierende Handschuhe,
- AuS-Anzug,
- Standort-/Erdreichisolierung,
- Helm mit Gesichtsschutz.
Vermutlich durch einen Handhabungsfehler kam es zu einem Direktkontakt mit unter Spannung stehenden aktiven Teilen. Die einzige noch verbliebene Isolierstrecke des verwendeten Kabelschneiders konnte keine Schutzwirkung mehr entfalten.
Der Monteur stand bei der Berührung des unter Spannung stehenden aktiven Teils gleichzeitig großflächig in Kontakt mit dem feuchten Erdreich des Muffenlochs. Daher kam es zu einer elektrischen Körperdurchströmung bei geringem Körperwiderstand. Sie führte noch an der Arbeitsstelle zum Tod.
Die Arbeiten fanden bei sonnigem und sehr warmem Wetter statt. Der Monteur trug nur ein kurzärmeliges T-Shirt. Bei der Obduktion des tödlich Verunfallten wurde die Stromeinwirkung eindeutig als Todesursache festgestellt.
Unternehmer tragen Verantwortung
Nur glücklichen Umständen ist es zu verdanken, dass seine Kolleginnen und Kollegen keinen Schaden erlitten. Sie kamen dem Verunfallten reflexartig zu Hilfe und zogen ihn aus dem Muffenloch, noch bevor die Leitung freigeschaltet war.
Der Unfallhergang zeigt, wie wichtig die Auswahlverantwortung und die Aufsichtspflicht von Unternehmerinnen, Unternehmern und Führungskräften ist. Neben den fachlichen Voraussetzungen ist gerade auch für AuS die charakterliche und mentale Eignung und Zuverlässigkeit von Beschäftigten zu beurteilen und auch regelmäßig zu überprüfen. Dabei ist sprichwörtlich auch die „Tagesform“ zu berücksichtigen. Neben unangekündigten Baustellenkontrollen spielt hier die Fehler- und Kommunikationskultur im Unternehmen eine große Rolle.
Fehlverhalten sollte im Kollegenkreis thematisiert und Führungskräften angezeigt werden. Das hat nichts mit Denunzieren zu tun, sondern ist sowohl zum Schutz der Kolleginnen und Kollegen als auch der eigenen Person erforderlich. Dies liegt im beiderseitigen Interesse des Unternehmens und der Beschäftigten.
Eine besondere Rolle fällt auch den Sicherheitsbeauftragten zu. Nur durch die richtige Einstellung zur Arbeitssicherheit, die uneingeschränkte Leistungsfähigkeit der Beschäftigten und eine Unternehmenskultur im Sinne von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz lassen sich Unfälle dieser Art vermeiden.
Karsten Müller
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www.bgetem.de, Webcode: 11150461 - Elektrische Gefährdungen
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profi.bgetem.de → Superhelden für mehr Sicherheit - DGUV-Vorschrift 3 „Elektrische Anlagen und Betriebsmittel“
medien.bgetem.de, Webcode M18820546 - DGUV-Regel 103-011 „Arbeiten unter Spannung an elektrischen Anlagen und Betriebsmitteln“
medien.bgetem.de, Webcode M18393301
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