Die Grafik zeigt schematisch von links nach rechts den Arbeitsweg von einem Privathaus mit einem Baum bis zu einem mehrstöckigen Geschäftsgebäude und weiter zu einem anderen Privathaus mit einem Teich und Schwänen vor der Tür. Die Gebäude sind durch eine sich verzweigende graue Straße verbunden. Auf der Straße vor dem linken Privathaus steht ein blaues Auto, Ansicht von oben.

Auch auf dem Weg vom dritten Ort zur Arbeitsstätte sind Beschäftigte im Regelfall unfallversichert.

Wer von seiner Wohnung zwecks Arbeitsaufnahme zum Arbeitsplatz ins Büro, auf eine Baustelle oder zu einem anderen mit dem Arbeitgeber festgelegten Ort fährt, ist dabei grundsätzlich gesetzlich unfallversichert. Voraussetzung: Die oder der Beschäftigte befindet sich auf dem unmittelbaren Weg. Das Gleiche gilt für den Rückweg. Doch der Angestellte Karl P. fragt sich: „Wie ist das eigentlich, wenn mein Arbeitsweg nicht zu Hause beginnt, sondern ich von einem anderen Ort komme – zum Beispiel von meiner Lebensgefährtin, bei der ich übernachtet habe?“

Der Versicherungsschutz auf Wegen von und zur Arbeit – im Juristendeutsch: zur „versicherten Tätigkeit“ – wird im Sozialgesetzbuch (SGB) VII geregelt. Begründet wird der Versicherungsschutz damit, dass diese Wege nicht aus privaten Interessen, sondern wegen der versicherten Tätigkeit unternommen werden. Sie sind somit darauf ausgerichtet, dem Unternehmen zu dienen. Andererseits werden Ausgangsoder Zielpunkt des Weges zum und vom Ort der Tätigkeit vom persönlichen, nicht unfallversicherten Lebensbereich geprägt.

Wo beginnt der versicherte Weg?

Während der Tätigkeitsort eindeutig vom Gesetzgeber als ein Grenzpunkt des versicherten Weges definiert wird, sieht das Gesetz keine Regelung für den anderen Grenzpunkt dieses Weges vor. Daher ist der Paragraf durch die Rechtsprechung der Sozialgerichte ausgelegt und konkretisiert worden. Tritt die oder der Beschäftigte den Arbeitsweg nicht von der eigenen Wohnung aus an, sondern von einem anderen Ort, ist dies laut Rechtsprechung ein sogenannter dritter Ort. Dies gilt auch für das Ziel des Arbeitswegs.

Der dritte Ort als Ausgangs- oder Endpunkt des Weges von oder zur Arbeitsstätte ist also ein Ort, der anstelle der Wohnung des Versicherten und nicht zusätzlich aufgesucht wird. Allerdings ist nicht jeder Ort als Ausgangs- oder Endpunkt eines „versicherten Wegs“ geeignet.

Zwei-Stunden-Grenze

Zunächst ist die Dauer des Aufenthaltes am dritten Ort relevant. Sie muss so erheblich sein, dass der dritte Ort funktional an die Stelle des häuslichen Bereichs tritt und daher der Aufenthalt dort ein angemessenes, zeitliches Gewicht haben sollte. In der Rechtsprechung hat sich dazu eine Aufenthaltsdauer von mindestens zwei Stunden etabliert. Ereignet sich ein Unfall auf dem Weg vom Betrieb zum dritten Ort, so genügt zur Erfüllung der Zwei-Stunden-Grenze, dass der Versicherte beabsichtigte, an diesem Ort mindestens zwei Stunden zu verbringen. Diese Absicht muss mit Gewissheit bewiesen sein (sog. Vollbeweis).

Für die Frage von Karl P. bedeutet dies: Da er vor seinem Unfall in der Wohnung seiner Lebensgefährtin übernachtet hat, ist die Voraussetzung für einen Versicherungsschutz erfüllt.

Angemessenes Wege-Verhältnis?

Um für mehr Rechtssicherheit zu sorgen, hat das Bundessozialgericht (BSG) im Januar 2020 seine Rechtsprechung zum dritten Ort einerseits bekräftigt, zugleich aber auch geändert (Az.: B 2 U 2/18 R sowie B 2 U 20/18 R). So hält das BSG an der Zwei-Stunden-Grenze ausdrücklich fest. In der Vergangenheit war für den Versicherungsschutz aber auch entscheidend, ob die Wegstrecke „Tätigkeitsort – dritter Ort“ in einem angemessenen Verhältnis zur Strecke „Tätigkeitsort – Wohnung“ stand. Dahinter stand der Gedanke, dass der private Zweck des Wegs zum dritten Ort und des Aufenthalts dort überwiegen würde. Entsprechend orientierten sich die Gerichte an einem mathematischen Vergleich zwischen diesen beiden Strecken.

In den vergangenen Jahren vertraten die Gerichte jedoch zunehmend die Auffassung, dass eine Begrenzung allein nach einer bestimmten Wegstrecke ein ungeeignetes Kriterium sei. Denn damit wären nahe am Tätigkeitsort wohnende Versicherte (die in der Regel auch ein geringes Wegeunfallrisiko tragen) gegenüber weiter entfernt wohnenden Kollegen schon wegen der Weglänge benachteiligt.

Daher setzte sich bei unangemessen längeren Wegen an den Gerichten die Abwägung durch, ob Aufenthalte am dritten Ort

  • für Verrichtungen des täglichen Lebens ohne Bezug zur versicherten Tätigkeit genutzt wurden oder
  • ob es sich um Verrichtungen handelte, die zumindest mittelbar dem Betrieb zugutekommen – ob also „betriebsdienliche Motive“ für einen Aufenthalt am dritten Ort sprachen.

Wenn Beschäftigte beim Lebenspartner oder der Lebenspartnerin übernachtet hatten und von dort einen deutlich längeren Weg zur Arbeit antraten als von ihrem Wohnort, könne man entsprechend der heutigen gesellschaftlichen Realität von einem erweiterten häuslichen Bereich ausgehen, entschied das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen 2018. Für den Versicherungsschutz entscheidend sei, dass sowohl die Wegstrecke von der Wohnung des Partners oder der Partnerin zur Arbeit als auch die Wegstrecke „eigene Wohnung – Arbeitsplatz“ innerhalb eines Bereichs liegen, den Arbeitnehmer üblicherweise an Arbeitstagen zurücklegen.

Die neue Rechtsprechung

Diese Entscheidung wurde durch das neue BSG-Urteil nochmals abgeändert. Für das BSG kommt es bei einem Unfall auf dem Weg von einem dritten Ort nun

  • weder auf einen mathematischen oder wertenden Angemessenheitsvergleich der Wegstrecken an
  • noch auf die Motive für den Aufenthalt am dritten Ort, den erforderlichen Zeitaufwand für den Weg oder die Höhe des Unfallrisikos.

Unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten lässt sich nach Feststellung des höchsten deutschen Sozialgerichts nicht rechtfertigen, dass zwei Personen, die im selben Haus übernachtet haben und am nächsten Morgen denselben Arbeitsweg haben, nur dann beide versichert sind, wenn sie dort als Bewohner ihren Lebensmittelpunkt haben und nicht lediglich Besucher waren. Erleiden Bewohner und Besucher also auf dem Weg zur Arbeit mit demselben Verkehrsmittel denselben Unfall und ziehen sich dabei Verletzungen zu, sei „kein sachlicher Grund ersichtlich, den Besucher – anders als den Bewohner – von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung auszuschließen“, so das BSG. Entscheidend sei allein, ob der wesentliche Grund – die „Handlungstendenz“ – für das Zurücklegen des Wegs darin bestehe, den Ort der Tätigkeit aufzusuchen.

Fazit: Karl P. ist auf dem direkten Weg von der Wohnung seiner Lebensgefährtin zu seiner Tätigkeit versichert.