Dieses Foto zeigt einen Fuß in einem Arbeitsschuh mit groben Profil, der gerade in einen aus einem Brett herausstehenden Nagel tritt.

Die Zahl schmerzhafter Arbeitsunfälle lässt sich auch durch eine gute Fehlerkultur verringern.

Andreas Hermann hat es gefühlt schon 100-mal gesagt. Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten vorsichtig aus dem Flurförderfahrzeug im Hochregallager aussteigen – und nicht einfach abspringen. Und jetzt humpelt doch schon wieder einer.

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Logistikleiter Hermann erfährt nur durch Zufall, dass der Kollege sich tatsächlich bei einer ganz anderen Tätigkeit den Knöchel verstaucht hat. Es gibt nämlich eine Unebenheit im Boden des Lagers, die keiner bisher bemerkt haben will. Was soll Andreas Hermann nun machen?

Als Führungskraft trägt er Verantwortung für die Gesundheit seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – aber er kann doch nicht alles kontrollieren? Und die Beschäftigten immer wieder mündlich zur Vorsicht zu ermahnen, scheint keine wirkliche Besserung zu bringen. Wenn sich „seine Leute“ verantwortungslos verhalten, sind ihm doch die Hände gebunden, oder?

Menschliche Fehler keine Alleinursache

Menschliches (Fehl-)Verhalten mag zwar der Auslöser für einen Unfall sein, aber es ist nicht die alleinige Ursache dafür. Weitere Ursachen liegen in der Kultur, in der der Mensch sich befindet. Durch den richtigen Umgang mit Beinahe-Unfällen und unsicheren Situationen können die Fehlerkultur in einem Unternehmen aber verbessert und sichere sowie gesunde Arbeitsbedingungen hergestellt werden.

Drei Aspekte sind dabei entscheidend:

  • das Wahrnehmen der unsicheren oder riskanten Zustände,
  • die Gestaltung sicherer Arbeitsbedingungen und
  • die Rückmeldung an alle Beteiligten.

Die Aufmerksamkeit – neudeutsch: die Achtsamkeit – der Beschäftigten wird erhöht, wenn sie aktiv an Verbesserungsprozessen beteiligt werden und unmittelbare Rückmeldung zu ihrem Beitrag erhalten. Der zeitlich enge Zusammenhang zwischen der Meldung und der betrieblichen Reaktion erhöht fast automatisch die Bereitschaft der Belegschaft zur Mitarbeit. Sowohl ein persönliches Feedback als auch die tatsächliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen zeigen, dass die Aufmerksamkeit und die Meldung durch die Beschäftigten wertgeschätzt werden.

 

Isabell Kuczynski/Just Mields

„Der Anstoß kam von oben“

Das Porträtfoto zeigt Isabell Kuczynski, Arbeitspsychologin. Sie hat ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden und lächelt in die Kamera. Das Porträtfoto zeigt Christian Scholle, Verantwortlicher für betriebliche Vorschläge. Er hat blonde kurze Haare und trägt eine Brille.

Arbeitspsychologin Isabell Kuczynski von der BG ETEM befragt Christian Scholle, Verantwortlicher für betriebliche Vorschläge bei ASM Assembly Systems, München.

Isabell Kuczynski, Arbeitspsychologin im Fachkompetenzcenter Gesundheit im Betrieb der BG ETEM, sprach mit Christian Scholle von ASM Assembly Systems, einem Hersteller von SMT (Oberflächenmontage in der Elektronik)-Bestückmaschinen und -lösungen mit rund 850 Beschäftigten in Deutschland, über die deutlich gesunkene Zahl von Beinahe-Unfällen. Als Verantwortlicher für das betriebliche Vorschlagwesen in dem Münchner Unternehmen hat Scholle seinen Arbeitgeber dabei unterstützt, die Erfassung von Beinahe-Unfällen zu vereinfachen. Ergebnis: Die Beschäftigten melden nun häufig auch gefährliche Situationen – obwohl dies nicht vorgeschrieben ist. Tatsächlich meldepflichtige Unfälle werden dadurch vermieden, dass schon kleine Abweichungen und unsichere Situationen behoben werden.

Herr Scholle, Sie hatten seit mehreren Jahren keine schweren Arbeitsunfälle mehr im Unternehmen. Unter anderem ist dafür die Einführung eines neuen Systems zur Erfassung von Beinahe-Unfällen verantwortlich. Warum haben Sie dieses System eingeführt und wie sind Sie dabei vorgegangen?

Christian Scholle: Nach einer betrieblichen Umstrukturierung haben wir beschlossen, dass das System zur Erfassung von Beinahe-Unfällen einfacher zu handhaben sein muss. Wir haben dann zwei Lösungswege entwickelt:

  1. Das vorhandene System für Verbesserungsvorschläge bleibt bestehen.
  2. Dieses System kann jetzt aber auch für Beinahe-Unfälle genutzt werden.

Die Vorschläge erhalten die Führungskraft, die Sicherheitsfachkraft und das Referat für Verbesserungsvorschläge. Diese Personen reagieren dann möglichst sofort – und so lange, bis die Ursache der Beinahe-Unfälle behoben wird. Die Führungskraft ist verantwortlich für die Umsetzung von Maßnahmen in ihrem Verantwortungsbereich. Sie gibt der Person, die die Gefahr gemeldet hat, persönliches Feedback über die ergriffenen Maßnahmen.

Sie verbinden also zwei bisher getrennte Systeme, mit denen die Beschäftigten sowohl Verbesserungen als auch Gefahrenstellen melden und Verantwortliche darauf reagieren. Was ist der entscheidende Erfolgsfaktor?

Am wichtigsten ist, dass das Unternehmen zeitnah auf die Eingaben reagiert – sonst werden Beschäftigte sich in Zukunft nicht mehr melden. Wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter zum Beispiel feststellt, dass bei einer Brandschutztür die Klinke abgebrochen ist, wird sofort die Reparatur beauftragt und die Person, die den Schaden gemeldet hat, wird über diese Maßnahmen informiert.

Führungskräfte haben aller Erfahrung nach aber nicht immer Zeit, selbst und direkt zu reagieren. Wie haben Sie es geschafft, dass die Verantwortlichen Zeit haben, sich um solche Anliegen zu kümmern?

Ein Erfolgsfaktor bei uns war, dass die Unternehmensleitung selbst das Thema angestoßen und in das Management-System integriert hat. Die Verantwortlichen vor Ort sollen sich direkt sowohl um unsichere Situationen als auch um Verbesserungsvorschläge kümmern. Die Beschäftigten sehen das ganz klar als Wertschätzung ihrer selbst an.

Mittlerweile ist das Bewusstsein für Sicherheit und Gesundheit dadurch in unseren Fertigungsbereichen und in den Büros viel ausgeprägter. Die Beschäftigten melden die Beinahe-Unfälle gern, weil sie merken, dass direkt darauf reagiert wird. Zudem unterstützt unsere Personalabteilung sicheres und gesundes Verhalten mit einem ausgeprägten Angebot an präventiven Gesundheitsmaßnahmen.

Was empfehlen Sie Betrieben, bei denen dieses Bewusstsein für Sicherheit und Gesundheit noch nicht selbstverständlich ist?

Hier rate ich unbedingt dazu, möglichst einfache Strukturen zu schaffen, die

  1. für die Mitarbeiter nachvollziehbar sind und
  2. den Beschäftigten zeigen, dass sie ernst genommen werden mit ihren Meldungen, weil Maßnahmen ergriffen werden und Führungskräfte darüber Feedback geben.

Im nächsten Schritt empfehlen sich Anreize. Die Bereitschaft, Beinahe-Unfälle zu melden, haben wir auch dadurch erhöht, dass wir ein Prämiensystem eingeführt haben. Mittlerweile geht es unseren Beschäftigten jedoch gar nicht mehr so sehr um die Prämie. Ihnen ist es viel wichtiger, dass die Gefahrenstelle beseitigt wird.