Gefahrenwahrnehmung: Eine Frau steht in einem dunklen Anzug und weißem Hemd an einem Whiteboard und erklärt einer Gruppe von Zuhörenden einen Sachverhalt. Die Gruppe sitzt an einem Tisch, einige tragen gelbe Sicherheitswesten und haben weiße Schutzhelme vor sich auf dem Tisch liegen.

Sensibilisierung für Gefahren: Arbeitsschutz gelingt am besten in einem Klima der Offenheit und Kommunikation.

Ein zentraler Teil des Arbeitsschutzes ist die Risikowahrnehmung. Was beeinflusst, ob ein Mensch eine Situation als gefährlich oder gefahrlos wahrnimmt?

Prof. Hiltraut Paridon: Zunächst spreche ich lieber von Gefahrenwahrnehmung. Die Gefahrenwahrnehmung liegt vor allem an Lernprozessen, an dem, was wir täglich erleben: Was ist gefährlich? Was ist ungefährlich? Dazu eine Beispielerfahrung aus dem Alltag: Ich fahre mit dem Auto 20 Jahre lang zur Arbeit – in der Regel zu schnell. Bei angenommen 200 Arbeitstagen und zwei Fahrten pro Tag sind das insgesamt rund 8.000 Fahrten. Wie oft werde ich in dieser Zeit geblitzt? Vielleicht ein- bis zweimal! Welche Folge hat das? Ich lerne, ich kann mich auch während der Fahrt auf andere Dinge konzentrieren, die meine Aufmerksamkeit fordern. Denn Aufmerksamkeit ist eine begrenzte Ressource. Wenn wir im Laufe des Lebens lernen: Eine Situation verläuft immer gut, können wir unsere Aufmerksamkeit anderen Dingen widmen. Das ist im Prinzip gut, aber nicht für den Arbeitsschutz.

Warum?

Sind Sie schon einmal eine Bautreppe hinaufgestiegen? Wenn Sie da nicht aufpassen, stolpern Sie. Warum? Weil die Stufen manchmal nicht exakt gleich hoch sind. Hier helfen genormte Stufen.

Ich muss also lernen, meine Aufmerksamkeit dort zu erhöhen, wo ich mich auf eine ungewohnte Situation einstellen muss?  

Genau. Das Problem ist aber häufig, dass sich solche ungewohnten Situationen oft nicht ankündigen. Man sollte sich also in einer gewohnten Situation immer mal wieder überlegen: Was könnte anders sein? Was könnte in dieser Situation passieren beziehungsweise gefährlich werden?

Stichwort „Reizüberflutung“: Wie kann man die Gefahrenwahrnehmung erhöhen? Sollte man das überhaupt?

Ich beschäftige mich seit 30 Jahren mit dem Thema. Das Einzige, was funktioniert: Man muss sich Situationen, die scheinbar ungefährlich sind, aber gefährlich werden können immer wieder bewusst machen. Es gibt nichts anderes. Also: Immer wieder mit Kolleginnen und Kollegen besprechen, wo etwas passieren könnte. Leider gibt es keinen Zauberstab für Verhaltensänderungen.

Und zur Reizüberflutung: Ja, das ist ein Problem. Heute tragen sehr viele Menschen im Straßenverkehr einen Kopfhörer. Die hören nicht mal mehr etwas und starren nur auf ihr Smartphone. Ich kriege da immer die Krise und frage mich: Wo seid ihr mit eurer Aufmerksamkeit?

Wären Verbote hilfreich?

Das ist auch eine moralische Frage. Will ich das mit Gesetzen regeln? Oder setze ich da auf Einsicht? Beispiel Handy-Telefonat während der Autofahrt: Das Handy-Halten während der Fahrt hat der Gesetzgeber verboten, damit man das Lenkrad festhalten kann. Aber wie aufmerksam kann ich bei einem intensiven Gespräch über eine Freisprech-Einrichtung sein? Das geht nur so lange gut, wie auf der Autobahn nichts Besonderes passiert, was meine Aufmerksamkeit fordert. Wenn aber der Reifen eines vorausfahrenden Lkws platzt, wird es gefährlich. Denn so schnell kann man seine Aufmerksamkeit nicht auf die Straße richten, wenn ich vorher aufs Gespräch konzentriert war.

Was bedeutet das für gesetzliche Vorgaben?

Wenn ich als Gesetzgeber Strafen ankündige, muss ich dafür sorgen, dass die Strafe auch umgesetzt wird – sonst hat man gegenteilige Effekte.

Wie können Verantwortliche die Gefahrenwahrnehmung der Beschäftigten beeinflussen?

Es geht nur mit Sensibilisierung. Beschäftigte sollten sich auch gegenseitig berichten: Wo könnten kritische Situationen sein? Wo wäre beinahe etwas passiert? Dafür brauchen wir aber im Unternehmen ein Klima der Offenheit. In der Praxis heißt das: Immer wieder die Zusammenhänge deutlich machen zwischen Lernen, Automatisierungen und Verhalten. Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir das hinbekämen.

Wie sollte man mit Regelverletzungen im Betrieb umgehen?

Das kommt auf die Vereinbarung an. Wenn ein Regelverstoß eine Sanktion nach sich ziehen soll, muss ich die Sanktion auch umsetzen. Sonst darf ich die Sanktion nicht ankündigen. Für das jeweilige Unternehmen bedeutet das: Ich muss definieren, was ein Regelverstoß ist – und dafür sorgen, dass der auch gesehen und bestraft wird.

Wie vermeide ich als Unternehmerin oder Unternehmer, dass ich meine Beschäftigten mit Sanktionsandrohungen demotiviere?

Regeln müssen nachvollziehbar sein. Aber es sollte nicht gelten: Gleiche Regeln für alle – denn es kommt auch darauf an, in welchem Bereich man arbeitet. Ich würde als Arbeitgeberin oder Arbeitgeber mit den Beschäftigten festlegen: Welche vier bis fünf Regeln sind uns so wichtig, dass wir sagen: Darauf müssen wir in jedem Fall achten? Und wenn wir das nicht tun, dann müssen wir auch die damit verbundenen Sanktionen ertragen. 

Welche Rolle spielt das Vorbildverhalten von Führungskräften?

Das hängt auch davon ab, welches Ansehen eine Führungskraft bei ihren Beschäftigten hat. Wenn die Führungskraft bei ihren Beschäftigten beliebt ist, ist sie ohnehin ein Vorbild. Anders ist die Situation für Führungskräfte, die nicht gemocht werden: Dann verhält sich zwar vielleicht die Führungskraft richtig, aber nicht automatisch auch die Beschäftigten. Eine Führungskraft kann auch falsche Signale ausstrahlen. Wenn der Chef in der Mittagspause durcharbeitet, kann bei den Beschäftigten die Botschaft ankommen: Ich bin hier nur etwas wert, wenn ich durcharbeite. Umgekehrt gilt aber auch: Wenn der Chef eine Mittagspause macht, heißt das noch lange nicht, dass das auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun.

Stichwort „Zeitdruck“: Wie können Verantwortliche bewirken, dass sich ihre Beschäftigten zum Beispiel bei Personalausfall nicht wegen des Gefühls von zu wenig Zeit unsicher verhalten?

Der Unternehmer oder die Unternehmerin muss richtig einschätzen, wie viel Zeit für eine Aufgabe erforderlich ist. Wenn zu wenig Personal zur Verfügung steht, muss sie oder er unter Umständen mal einen Auftrag ablehnen. Arbeitgeber brauchen also einen klaren Standpunkt, den sie gegenüber ihren Beschäftigten kommunizieren: Was erwarte ich? Das andere, was Führungskräfte machen müssen: Sicheres Verhalten vorleben! Wenn Führungskräfte solche Beschäftigte fördern, die zwar schnell, aber nicht nach Arbeitsschutzvorschriften arbeiten, setzen sie ein falsches Signal.

Wie verankern Unternehmerinnen und Unternehmer eine Kultur der Prävention so im Betrieb, dass auch Auszubildende oder neue Beschäftigte danach handeln?

Entscheidend sind Fehlerkultur und Offenheit. Nicht diejenigen, die Fehler vertuschen, sondern die, die Fehler offen zugeben, müssen gefeiert werden. Zu einer Fehlerkultur gehört auch, dass der Chef selbst bereit ist, Fehler anzuerkennen und darüber zu reden.

Menschen haben aufgrund unterschiedlicher Herkunft und Lebenserfahrungen ein unterschiedliches Verhältnis zu Risiken. Wie schaffen Unternehmerinnen und Unternehmer im Betrieb ein gemeinsames Verständnis von notwendiger Arbeitssicherheit?  

Die Standards in Fragen der Arbeitssicherheit sind im internationalen Raum unterschiedlich. Deshalb brauchen wir gerade im Umgang mit zugewanderten Beschäftigten einen langen Atem, damit sie „umlernen“ können. Dennoch muss auch hier gelten: Wer sich nicht an die vereinbarten Regeln hält, fliegt raus. Denn als Unternehmerin oder Unternehmer muss ich mich auch Zugewanderten gegenüber fragen: Wie ernst nehme ich meine Regeln in Fragen der Arbeitssicherheit?

Haben Sie Beispiele dafür, dass Arbeitssicherheit von Verantwortlichen und Beschäftigten ganz unterschiedlich gesehen wird?

Ich erinnere mich an eine Umfrage, in der es um Schutzeinrichtungen ging. Befragt haben wir zum einen Beschäftigte, die diese Einrichtungen bedienen, zum anderen Aufsichtspersonen: „Wie gefährlich ist eine Manipulation von Schutzeinrichtungen?“ Das Ergebnis: Die beiden Gruppen haben genau spiegelbildlich geantwortet. Die Bediener sagten: „ungefährlich“, die Aufsichtspersonen: „gefährlich“. Offenkundig ist: Beide Seiten haben dieselbe Situation aufgrund eigener Erfahrungen oder von Analysen ganz unterschiedlich bewertet. Sie müssen deshalb miteinander sprechen, um die Gründe für ihre unterschiedlichen Einschätzungen zu ermitteln.    

Das Gespräch führte Stefan Thissen.