Wegweiser für die Praxis
Die Gefährdungsbeurteilung bildet das Fundament des Arbeitsschutzes. Bevor Gefahrstoffe eingesetzt werden oder entstehen können, müssen Unternehmer eine Gefährdungsbeurteilung nach der Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) durchführen. Die GefStoffV legt Ziele zum Schutz der Beschäftigten fest, enthält jedoch eher allgemeine Vorgaben zu den erforderlichen Schutzmaßnahmen. Im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung sind Arbeitgeber verpflichtet, für die jeweiligen Tätigkeiten ein konkretes Schutzmaßnahmenkonzept nach dem Stand der Technik aufzustellen. Die Technische Regel für Gefahrstoffe (TRGS) 400 empfiehlt dazu ein schrittweises Vorgehen (siehe Ablaufschema auf S. 16). Auf die wichtigsten Punkte geht dieser Artikel ein.
Verantwortlichkeiten
Verantwortlich für das Erstellen der Gefährdungsbeurteilung ist laut Gefahrstoffverordnung „der Arbeitgeber“. Damit ist gemeint, wer im jeweiligen (Arbeits-)Bereich die Weisungsbefugnis hat. Mit der Pflichtenübertragung übernehmen Vorgesetzte auch die Verantwortung für den Arbeitsschutz in ihrem Team.
Die Gefährdungsbeurteilung muss fachkundig erstellt werden. Die Fachkunde umfasst im Wesentlichen eine geeignete Berufsausbildung oder eine entsprechende Berufserfahrung oder auch eine zeitnah ausgeübte berufliche Tätigkeit sowie Kompetenz im Arbeitsschutz (siehe Infokasten). Diese Kompetenz lässt sich in spezifischen Fortbildungsmaßnahmen erwerben bzw. vertiefen. Welche Grundanforderungen diese Fortbildungen erfüllen müssen, erläutert der neue DGUV Grundsatz 313-003. Die fachlichen Kenntnisse bezüglich der Arbeitsprozesse sowie der verwendeten Gefahrstoffe sind bei den Verantwortlichen in der Regel vorhanden. Verfügen sie nicht selbst über ausreichendes Wissen insbesondere zur Systematik der Gefährdungsbeurteilung oder zu gefahrstoffspezifischen Fragestellungen, müssen sie sich fachkundig beraten lassen. Eine solche Beratung können beispielsweise die Fachkraft für Arbeitssicherheit und die Betriebsärztin oder der Betriebsarzt übernehmen, wenn diese die Anforderungen erfüllen.
Gefährdungen erfassen
Um mögliche Gefährdungen zu beurteilen, müssen zunächst Informationen über die verwendeten oder freigesetzten Gefahrstoffe vorliegen. Diese Informationen soll das Gefahrstoffverzeichnis liefern. Es muss für jeden Arbeitsbereich erstellt werden und mindestens folgende Angaben enthalten:
- Bezeichnung des Gefahrstoffes, (z. B. Produkt- oder Handelsname aus dem Sicherheitsdatenblatt),
- Einstufung des Gefahrstoffes nach CLP-Verordnung: Gefahrenklasse, -kategorie und Gefahrenhinweise (H-Sätze) und gegebenenfalls ergänzende Gefahrenmerkmale sowie ergänzende Kennzeichnungselemente (EUH-Sätze) oder sonstige Eigenschaften, die den Stoff als Gefahrstoff klassifizieren,
- Angaben zu den im Betrieb verwendeten Mengenbereichen,
- Bezeichnung der Arbeitsbereiche, in denen Beschäftigte dem Gefahrstoff ausgesetzt sein können, sowie
- einen Verweis auf die entsprechenden Sicherheitsdatenblätter.
Sicherheitsdatenblätter, die Hersteller spätestens mit der ersten Lieferung eines Gefahrstoffes übermitteln müssen, enthalten eine Fülle von Informationen für die Gefährdungsbeurteilung, etwa zur Einstufung von Gefahrstoffen. Daneben finden sich zahlreiche Hinweise zur sicheren Verwendung, zur Lagerung, zu Grenzwerten, zu geeigneter Persönlicher Schutzausrüstung, zur Ersten Hilfe und zu vielem mehr.
Im nächsten Schritt gilt es, die konkrete Tätigkeit arbeitsplatzbezogen zu erfassen. Nur so lassen sich die mögliche Exposition ermitteln und die geeigneten Schutzmaßnahmen festlegen. Beispielsweise unterscheidet sich beim Anwenden desselben Lackes die Exposition, je nachdem ob Beschäftigte den Lack mit dem Pinsel oder einer Spritzpistole auftragen. Während im ersten Fall vorwiegend Lösemittel ausdampfen, wird im zweiten Fall der Lack zusätzlich als feinverteiltes Aerosol freigesetzt.
Handlungsempfehlungen
Gerade für Gefahrstoffe, die erst bei der Tätigkeit entstehen, wie beispielsweise Schweißrauche, liegen in der Regel keine Sicherheitsdatenblätter vor. Dann müssen Verantwortliche selbst die Stoffeigenschaften der entstehenden Produkte ermitteln. Hilfestellung dabei können Handlungsempfehlungen oder Informationen Dritter liefern, etwa:
- stoff- oder tätigkeitsbezogene TRGS,
- verfahrens- oder stoffspezifische Kriterien (VSK) nach TRGS 420 (inhalative Gefährdung),
- branchen- oder tätigkeitsspezifische Handlungsempfehlungen, z. B. von Unfallversicherungsträgern oder Berufsverbänden,
- vorhandene Gefährdungsbeurteilung Dritter, z. B. Hersteller.
Bei jeder Handlungsempfehlung ist zu prüfen, ob sie sich für den jeweiligen Arbeitsplatz eignet. Dabei gelten eine Reihe von Kriterien, die in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden müssen (siehe Infokasten Handlungsempfehlungen).
Situation am Arbeitsplatz
Um wirksame Schutzmaßnahmen festlegen zu können, müssen zunächst die mit den Tätigkeiten verbundenen Expositionen, also die möglichen Aufnahmewege des Gefahrstoffes in den menschlichen Körper, systematisch betrachtet werden. Man unterscheidet zwischen inhalativer Exposition (durch Einatmen), dermaler (durch Hautkontakt) und oraler (durch Verschlucken). Die verschiedenen Aufnahmewege stellt die nachstehende Abbildung dar. Auch physikalisch-chemische Gefährdungen sind bei der Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen.
Eine inhalative Exposition ist generell möglich, wenn Gefahrstoffe im gasförmigen Zustand (als Gase oder Dämpfe) in den Atembereich der Beschäftigten gelangen können. Ebenso können feste oder flüssige Gefahrstoffe eingeatmet werden, wenn sie als sogenanntes Aerosol vorliegen, also als kleinste Fest- oder Flüssigkeitspartikel fein verteilt in der Luft. Häufig entstehen Aerosole als Folge eines Arbeitsprozesses, etwa als Stäube beim Schleifen, Rauche beim Schweißen oder Chrom(VI)-Aerosole beim Hartverchromen.
Der Arbeitgeber hat die Dauer und Höhe der inhalativen Exposition zu ermitteln. Die TRGS 402 beschreibt Vorgehensweisen, um die inhalative Gefährdung bei Tätigkeiten mit Gefahrstoffen zu beurteilen und die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen festzustellen, und zwar durch messtechnische Methoden („Arbeitsplatzmessungen“) oder nicht messtechnische (z. B. Übertragen der Ergebnisse vergleichbarer Tätigkeiten oder Berechnungen).
Um die inhalative Exposition zu beurteilen, sind die Arbeitsplatzgrenzwerte (AGW) aus TRGS 900 sowie die in der TRGS 910 veröffentlichten Akzeptanz- und Toleranzkonzentrationen für krebserzeugende Gefahrstoffe heranzuziehen. Stehen solche Werte nicht zur Verfügung, informiert die Nummer 5.4.2 der TRGS 402 über andere geeignete Beurteilungsmaßstäbe.
Eine dermale Gefährdung ist bei Tätigkeiten mit hautgefährdenden oder hautresorptiven Stoffen möglich sowie bei Feuchtarbeit (Arbeiten in wasserdichten Handschuhen über einen längeren Zeitraum). Wie sich eine dermale Exposition einschätzen lässt, stellt die TRGS 401 ausführlicher dar.
Eine orale Exposition lässt sich in der Regel ausschließen, wenn die Grundpflichten nach GefStoffV und TRGS 500 erfüllt sind. Dazu zählen u. a. ausreichende (Hand-)Hygiene, eine klare Trennung von Arbeits- und Pausenbereich zur Nahrungsaufnahme sowie das Verbot, Gefahrstoffe in Behältern, die mit Lebensmittelbehältern vertauscht werden können, abzufüllen oder zu lagern.
Zu den physikalisch chemischen Gefährdungen zählen:
- gewisse Eigenschaften von physikalischen Zustandsformen, die unabhängig von den stoffspezifischen Eigenschaften eine Gefährdung darstellen können.
- Beispiele: heißer Wasserdampf oder unter Druck stehende Gase.
- Brandgefährdungen (siehe insbesondere TRGS 800) bei Tätigkeiten mit brennbaren oder oxidierenden Gefahrstoffen.
- Explosionsgefährdungen, die bei Bildung von explosionsfähigen Gemischen aus einem brennbaren Stoff und (Luft-)Sauerstoff auftreten. Zu brennbaren Stoffen gehören bestimmte Gase, Dämpfe oder Stäube. Brennbare Stäube können ein explosionsfähiges Gemisch mit Luft bilden, wenn sie als Schwebstaub freigesetzt oder vom Boden oder anderen Oberflächen aufgewirbelt werden.
- Kann die Bildung einer gefährlichen explosionsfähigen Atmosphäre (g. e. A.) nicht ausgeschlossen werden, muss ergänzend zur Gefährdungsbeurteilung ein Explosionsschutzdokument erstellt werden.
Handlungsempfehlungen
Laut Anlage 2 der TRGS 400 gelten folgende Kriterien:
- Aktualität Bei allen Bezügen zum Gefahrstoffrecht (GefStoffV, TRGS) muss der jeweilige Stand benannt und aktuell sein, auf den sich die Handlungsempfehlung bezieht.
- Anwendungsbereich Verfahren und Stoffe, die nicht unter die Handlungsempfehlung fallen, müssen klar abgegrenzt werden.
- Verfahrensspezifische Bedingungen Technische Schutzmaßnahmen müssen detailliert beschrieben werden, z. B. Absaugungen, Erfassungs- sowie Lüftungseinrichtungen und Luftführung sowie Maßnahmen gegen Emissionen.
- Stoffspezifische Bedingungen Stoffe, Stoffgruppen, Gemische oder Erzeugnisse sowie die Einsatzmengen müssen eindeutig festgelegt sein.
- Ermittlungsergebnisse Ergebnisse von Untersuchungen, die der Handlungsempfehlung zugrunde liegen, müssen dokumentiert sein.
- Anwendungshinweise Es müssen Empfehlungen dazu vorliegen, in welchen zeitlichen Abständen die Handlungsempfehlung überprüft werden soll, wann und wie geprüft wird, inwieweit die festgelegten verfahrenstechnischen und stoffspezifischen Bedingungen eingehalten werden.