Das Foto zeigt einen Arbeiter mit Schutzmaske- und Brille und Schutzhandschuhen. Er kniet in einem ausgebaggerten Erdloch. Mit der rechten Hand bedient er einen Hebel.

Ein Fall für die arbeitsmedizinische Prävention: Das Arbeiten in erzwungener Körperhaltung in Risikobereichen

In der arbeitsmedizinischen Regel (AMR) 13.2 sind u. a. Risikobereiche für erzwungene Körperhaltungen beschrieben, die bei entsprechender Gefährdungsbeurteilung Anlass für eine arbeitsmedizinische Vorsorge sein können (siehe Grafik).Im Rahmen dieser Vorsorge können Betriebsärzte Beschäftigten im Einzelfall laut Präventionsgesetz (PrävG) auch eine Präventionsempfehlung in Rezeptform ausstellen. Sie ist bei der Entscheidung der Krankenkassen, ob sie primärpräventive Angebote zur individuellen Verhaltensprävention finanzieren, zu berücksichtigen. Von den gesetzlichen Krankenkassen gefördert werden alle betrieblichen Maßnahmen, die dem Leitfaden Prävention der gesetzlichen Krankenversicherung(GKV) entsprechen.

Konkret heißt das: Es gibt kein Fitnessstudio auf Rezept; die Gesundheitsberater der Krankenkassen müssen jedoch für Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) prüfen, wie sich z. B. die Arbeitsanforderungen im Gasnetzbetrieb auf die Gesundheit der Beschäftigten auswirken.

Häufig lässt sich bei Rückenschmerzen, die zu einer Arbeitsunfähigkeit (AU) führen, nicht ein einzelner Auslöser bestimmen. In vielen Fällen geht es um Reizungen im Bereich der Rückenmuskulatur (unterentwickelt oder verspannt), der Faszien, Sehnen, Bänder oder der kleinen Wirbelgelenke.

Auslöser von Rückenschmerzen sind nicht nur körperlich schwere Arbeit, sondern oft auch psychische Faktoren („Stress“). Beide Auslöser werden auch in Redensarten deutlich – z. B. „Jemand hat sich krumm gearbeitet“ oder „hat schwer an etwas zu tragen“. Die Risikofaktoren für das Auftreten von (chronischen) Rückenschmerzen lassen sich der Tabelle oben entnehmen.

Vorsorgeanlass bei erzwungener Körperhaltung

Diese Abbildung zeigt einen farbigen Kreis mit dem Text "Risikobereich 2".

Risikobereich 2:

Knien, Rumpfvorbeuge < 1 h pro Arbeitsschicht

Ermüdung, geringgradige Beschwerden, die kompensiert werden können.

Wunschvorsorge

  • 11 ArbSchG und § 5a ArbMedVV

 

Diese Abbildung zeigt einen farbigen Kreis mit dem Text "Risikobereich 3".

Risikobereich 3:

Knien, Rumpfvorbeuge ab 1 h pro Arbeitsschicht

Beschwerden (Schmerzen) ggf. mit Funktionsstörungen, reversibel ohne Strukturschäden.

Angebotsvorsorge

Anhang 3 Absatz 2 Nummer 4 ArbMedVV

Risikofaktoren für das Auftreten von (chronischen) Rückenschmerzen

Individuelle Ebene Risikofaktoren

Biologische Risikofaktoren

Höheres Alter (ab 45 Jahre)
Degenerative Prozesse

Psychische Risikofaktoren

Anhaltende Belastung und Sorgen im privaten Alltag, wahrgenommene geringe soziale Unterstützung
Angst, Depression, ein Gefühl, immer krank zu sein

Lebensstil

Rauchen
Übergewicht
geringe körperliche Kondition

 

Berufliche Ebene Risikofaktoren

Arbeitssituation

Körperlich schwere Arbeit (insbesondere Heben und Tragen schwerer Lasten)
Nackenschmerzen: ungewöhnliche, einseitige Haltungen, Tätigkeit am Bildschirm, Über-Kopf-Arbeiten
Wiederholte einseitige Bewegungen, Ganzkörpervibration Tätigkeiten in Umgebungen mit kalten oder wechselnden Temperaturen
Monotone Arbeitsbelastung, hohe Arbeitsanforderungen
Wahrgenommene geringe Kontrolle über Arbeitsbedingungen und geringe Unterstützung von Kollegen und Vorgesetzten
Geringe Arbeitszufriedenheit
Unsicherer Arbeitsplatz, Angst vor Arbeitslosigkeit

Modifiziert nach: Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2000/01) und Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

Unspezifische Rückenschmerzen bilden die größte Einzelgruppe

Aus den AU-Daten der DAK 2018 geht hervor, dass Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) den größten Anteil an den zehn wichtigsten Krankheitsarten bei AU-Tagen haben (siehe Tabelle auf S. 22). Unter den MSE wiederum bilden unspezifische Rückenerkrankungen („Rückenschmerzen“) die größte Einzelgruppe. Auf sie entfallen etwa drei Viertel der AU-Tage aller Rückenerkrankungen.

Beim Blick auf die Rückenpatienten nach Altersgruppen zeigt sich, dass nicht etwa höheres Alter von Beschäftigten für steigende Ausfallzeiten verantwortlich ist, sondern vor allem die lange Erkrankungsdauer einzelner Betroffener. Der Anteil der Betroffenen steigt zwar mit dem Alter an, der Unterschied zwischen jungen und alten Betroffenen ist jedoch nicht sehr ausgeprägt. Anders dagegen die Ausfalltage durch Schmerzepisoden, die mit höherem Alter erheblich zunehmen.

Rückenerkrankungen sind vor allem deshalb ein Problem älterer Beschäftigter, weil es für diese Gruppe offenbar nur schwer gelingt, nach schwerer körperlicher Arbeit eine notwendige längere Regenerationszeit einzuräumen (alters- und alternsgerechte Arbeitsgestaltung). Dies müsste aber geschehen, um eine Verschlimmerung von Rückenerkrankungen oder eine Chronifizierung zu verhindern. Von einem chronischen Krankheitsbild spricht man, wenn Rückenschmerzen mehr als drei Monate andauern oder langdauernde Schmerzepisoden immer wieder auftreten.

Zur individuellen Verhaltensprävention bei Rückenbeschwerden bieten einzelne Krankenkassen z. B. RückenCheck-Programme mit der MediMouse® an, einem computergestützten Hilfsmittel zur Bestimmung von Form, Beweglichkeit und Stabilität der Wirbelsäule. Da ein hoher Anteil der angegebenen Rückenbeschwerden funktionell bedingt sein kann, lassen sich Haltungsfehler über eine elektronische Vermessung der Rückenform mit anschließender Funktionsanalyse gut darstellen. Das Gerät wird von Hand entlang der Wirbelsäule direkt auf der Haut geführt.

Anteile der zehn wichtigsten Krankheitsarten an den AU-Tagen

Diese Grafik zeigt in Prozentzahlen die Anteile der zehn wichtigsten Krankheitsarten an den AU-Tagen.

DAK-Gesundheitsreport: Anteile der Krankheitsarten mit den meisten AU-Tagen

Wie erhalten Betriebe BGF-Leistungen?

Geeignete Maßnahmen zur BGF einzelner Anbieter werden von den gesetzlichen Krankenkassen bezuschusst, wenn die Präventionsleistungen von ihnen anerkannt werden. Wenn mögliche Aktivitäten zur BGF in vielen kleinen Betrieben schon in der Planungsphase scheitern, liegen oft diese Gründe vor:

  • Die Beschäftigten arbeiten an wechselnden Arbeitsorten und sind nicht regelmäßig für BGF-Maßnahmen „greifbar“.

  • Die Unternehmensleitung ist noch wenig aufgeschlossen für BGF, häufig verbunden mit der Einstellung, dass hohe Arbeitsbelastungen bei Freilufttätigkeiten nicht reduziert werden können.

  • Ungünstige strukturelle und/oder personelle Voraussetzungen in den Betrieben erschweren die Planung und Durchführung von BGF-Aktivitäten.

  • Aufgaben des Arbeits- und Gesundheitsschutzes muss der Unternehmer neben seiner Alltagsarbeit teilweise selbst erfüllen.

  • Kleinunternehmen im Baugewerbe sind häufig von der aktuellen Auftragslage abhängig und müssen ihre Aufträge termingebunden erledigen. Dadurch wird eine regelmäßige Durchführung von BGF-Maßnahmen behindert.

Staatliche Förderung

Laut Bundesgesundheitsministerium sind nach § 3 Einkommensteuergesetz (EStG) zusätzlich zum Arbeitslohn erbrachte Leistungen des Arbeitgebers zur Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken und zur Förderung der Gesundheit in Betrieben steuerfrei, wenn sie den Anforderungen der §§ 20 und 20b des Sozialgesetzbuchs (SGB) V genügen und nicht mehr als 500 Euro im Kalenderjahr kosten.

Damit die Steuerbefreiung auch ab 2019 noch gilt, müssen alle Maßnahmen der BGF nach dem „Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen“ vom 11.12.2018 mittlerweile auch zertifiziert sein. Für Unternehmen bedeutet dies, dass der im Betrieb tätige Anbieter mit seinem Präventionsangebot bei der Zentralen Prüfstelle Prävention der Krankenkassen zertifiziert sein muss. Einzelne Krankenkassen zertifizieren BGF-Maßnahmen z. B. nur, wenn das Unternehmen sie im Vorfeld beauftragt hat und die beauftragte Krankenkasse diese Maßnahmen auch umsetzt.

Unter Umständen stellen Krankenkassen für BGF-Maßnahmen, die Unternehmen ohne vorherige Einbindung der Krankenkasse durchführen, keine Zertifizierung aus. Derzeit suchen der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), das Bundesfinanz- und das Bundesgesundheitsministerium nach einer möglichst unbürokratischen Lösung der Zertifizierungsproblematik. Sie kann vor allem für solche Betriebe entstehen, in denen schon längere Zeit BGF-Maßnahmen praktiziert werden.

 

Dr. Monica Meyn